Essen. Wenn ein Kind beißt, haut, schubst, sind Eltern oft ratlos. Ist das Kind aggressiv? Wie kann man das verhindern? Was ein Erziehungsexperte rät.

Neulich in einer Spielstunde in Essen-Rüttenscheid: Ben, 19 Monate jung, läuft lachend durch den Raum. Doch dann bleibt er vor einem Jungen stehen, kneift ihm in die Wange – und schubst. Der Junge fällt auf seinen Windel-Popo und fängt an zu weinen. Ben läuft weiter, auf ein Mädchen zu – und schubst. Seine Mutter reißt die Augen auf und sagt, halb überrascht, halb entschuldigend: „Das hat er noch nie gemacht!“

Wenn Kinder hauen, beißen, treten, sind Eltern oft ratlos. Während sie die Blicke der anderen Erwachsenen auf sich spüren, fragen sie sich: Wieso beißt meine Tochter? Wird sie das wieder machen? Wir haben mit Martin Verfürth gesprochen. Der 58-Jährige unterstützt Eltern als Pädagoge und systemischer Berater bei „Familien-Raum“, einer Beratungsstelle der Diakonie in Essen-Borbeck. Er habe gerade eine Anfrage aus einer Kita genau zu diesem Problem erhalten: „Das scheint jetzt gerade ein Thema zu sein, womit sich Eltern sehr beschäftigen.“

Mutter hat Zweifel: Ich weiß nicht, wie ich auf das Schubsen meines Kindes reagieren soll

Auch Bens Mutter sagt: „Man ist völlig überfordert, weil du kein Werkzeug hast, wie du jetzt darauf reagieren sollst.“ Ihren richtigen Namen – und den ihres Sohnes – möchte die Immobilienkauffrau nicht in der Zeitung lesen. Die 39-Jährige will nicht, dass andere denken, Ben sei ein böses „A. . .-Kind“.

„Um böse zu sein, muss man ja erstmal eine Vorstellung davon haben, was richtig ist und was nicht richtig ist, und das hat ein kleines Kind einfach nicht“, sagt Verfürth. „Wenn wir über ganz kleine Kinder bis zum Alter von etwa drei Jahren sprechen, machen die das vor allen Dingen deshalb, weil sie keine andere Ausdrucksweise haben.“ Ihnen fehlen schlicht die Worte, wenn sie Kontakt mit anderen Kindern wünschen, wenn ihnen unbehaglich ist, weil sie Wut, Ärger, Ängstlichkeit spüren. Der Stresspegel steigt beim Kind, vielleicht weil es im Raum sehr laut ist. Und dann sucht es einen Weg, den Stress wieder loszuwerden – und schubst.

Leiterin der Spielstunde: Die Energie des Kindes umleiten

Verfürth empfiehlt, liebevoll aber bestimmt „Nein!“ zu sagen. Das Kind eventuell an die Seite zu nehmen, die kleine Hand festzuhalten, ohne dem Kind wehzutun. „Wie man es bei einer Steckdose machen würde.“ Auch Bens Mutter hat versucht, ihren Jungen festzuhalten. „Dann hat er sich immer wieder nach vorne gezogen und wollte wieder in den Ring.“ Sie sei so gestresst gewesen, dass sie Ben am liebsten geschüttelt hätte. Aber dem Impuls sei sie natürlich nicht gefolgt. Die Leiterin der Spielstunde habe versucht, Bens Energie umzuleiten. Tanzen statt Schubsen. Ohne Erfolg. „Wenn das noch mal passiert, dann gehen wir“, hat sich Bens Mutter vorgenommen. Vielleicht braucht Ben dann eher eine Tobe-Runde auf dem Spielplatz.

Auch dort beobachtet man oft, wie sich Kinder kneifen. Da entdeckt etwa ein Mädchen einen Roller und möchte ihn ausprobieren. Doch ein Junge hält ihn fest. Das Rangeln um den Roller beginnt.

Das ist mein Spielzeug – das Verständnis von meins und deins

Das Kind will das Spielzeug wegnehmen, und zwar nicht in böser Absicht, sondern, weil es entdecken möchte“, sagt Verfürth. Kleinkinder haben noch kein Verständnis davon, was deins und was meins ist. Trotzdem empfiehlt er, es Kindern so zu erklären: „Nein, der Roller gehört dem Jungen, damit kannst du nicht spielen.“ Und dann etwas suchen, was das eigene Kind ablenkt.

„Um böse zu sein, muss man ja erstmal eine Vorstellung davon haben, was richtig ist und was nicht richtig ist, und das hat ein kleines Kind einfach nicht“, sagt Martin Verfürth (58), Pädagoge und systemischer Familienberater von Familien-Raum in Essen.
„Um böse zu sein, muss man ja erstmal eine Vorstellung davon haben, was richtig ist und was nicht richtig ist, und das hat ein kleines Kind einfach nicht“, sagt Martin Verfürth (58), Pädagoge und systemischer Familienberater von Familien-Raum in Essen. © Privat | Privat

Anfangs würde das Kind das noch nicht verstehen. „Irgendwann lernt es, es gibt etwas, das gehört mir, und es gibt Dinge, die gehören anderen.“ Und dass Schubsen keine Lösung ist. Wichtig sei, dem Kind das immer wieder zu vermitteln, bis es das versteht. Wiederholung sei in der Erziehung wichtig. Verfürth erinnert sich an einen Satz, den er bei einer Fortbildung gelernt hat: „Die Hauptaufgabe von Eltern, ist es, eine Schallplatte zu sein.“

Wobei auch nicht bei jedem Balgen die Eltern eingreifen sollten, so Verfürth. Wenn die Kinder das selbst regeln, lernen sie, Konflikte zu lösen. Und er rät davon ab, ein Kind anzuspornen: „Du musst dich auch mal wehren.“ Das propagiere Gewalt als Lösung. Stattdessen könne man Kindern ab etwa drei Jahren beibringen, dass sie die Hand abwehrend heben und „Stopp“ sagen.

Schlechtes Vorbild: Großes Kind nimmt kleines Kind in den Schwitzkasten

Bens Mutter vermutet, dass sich ihr Sohn das Schubsen abgeguckt hat – von einem älteren Sprössling, der Ben ein paar Tage zuvor in den Schwitzkasten genommen hat. Das sei möglich, so Verfürth. „Aber Kinder machen das nicht, weil sie merken, hey, das ist ein gutes Mittel, andere in den Griff zu kriegen, sondern weil sie etwas gesehen haben, was sie ausprobieren möchten.“

Trotzdem befürchtet die Mutter, dass womöglich ihr Kleiner gemieden wird, wenn er andere haut. Verfürth beruhigt: „Wenn kleine Kinder am nächsten Tag zusammen sind, dann ist gestern so weit weg, dann werden die auch im Normalfall wieder miteinander spielen.“ Wenn das Hauen länger anhält, ein Kind mit fünf, sechs Jahren oder älter immer noch zuschlägt, müsse man genauer hinschauen. Dann braucht es vielleicht mehr Aufmerksamkeit.

„Ist doch gar nicht schlimm“, versucht in der Spielstunde die Mutter des Jungen mit dem Windel-Popo zu beruhigen, nachdem Ben ihn geschubst hat. „Das ist Unsinn“, betont Verfürth. Denn für den Kleinen sei das Schubsen schlimm. Besser sei es, dem Unbehagen Worte zu verleihen: „Das hat wehgetan. Ich verstehe, dass du jetzt traurig bist.“

>> Erzählen Sie von Ihren Erfahrungen: Wenn ein Kind Mutter oder Vater beißt und tritt

Jungen und Mädchen beißen oder kneifen auch ihre Eltern. Wenn das häufig passiert, werden Mütter und Väter selbst wütend: Was stimmt nicht mit meinem Sohn? Mag meine Tochter mich gar nicht? Aus Scham behalten viele es für sich. Dabei passiert das gar nicht so selten, dass Kinder ihre Eltern beißen oder treten. Erzählen Sie von Ihren Erfahrungen unter „Stichwort: Hauen“: Redaktion Wochenende, Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen; lebenundfamilie@funkemedien.de

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