Essen. Ratten groß wie Katzen: Altendorf ist eines von Essens Brennpunktvierteln. Wolfgang Zacheja will das ändern – doch an einem Problem scheitert er.
Zigaretten, belegte Brötchen, Kaffee, Doppelkorn. Es ist Mittag im Essener Stadtteil Altendorf. Im Kiosk an der Altendorfer Straße, der Schlagader des Viertels, hat sich eine Schlange gebildet. Trotzdem bemerkt die Inhaberin Wolfgang Zacheja sofort. „Ist es besser geworden mit den Ratten?“, fragt er. „Welche meinst Du? Die Menschen oder die Tiere?“, antwortet sie.
Altendorf ist einer von Essens Problemstadtteilen und für viele zur No-Go-Area geworden. Hier liegt Müll auf der Straße, in Hinterhöfen und Gärten. Die wenigen Plätze im Viertel sind gesäumt von Graffitis statt von Bäumen und Blumen. Für Wolfgang Zacheja ist Altendorf dennoch der ideale Ort, um seine Pension zu verbringen. Seit zwei Jahren ist der ehemalige Polizist als Streetworker im Stadtteil unterwegs.
Ex-Polizist richtet sich Streetworker-Büro in Essen-Altendorf ein
Im Auftrag des Diakoniewerks sucht er das Gespräch mit Anwohnerinnen und Anwohnern, mit Wohnungslosen, Drogensüchtigen und Clan-Mitgliedern. Es geht um Müll, um Lärm und um Ratten, die so groß sind wie Katzen. Mal kommen die Leute mit ihren Problemen direkt in sein Büro, das er sich auf dem Ehrenzeller Platz eingerichtet hat. Meist besucht Zacheja sie.
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Ein Spaziergang mit ihm zeigt, was passiert, wenn ein Stadtteil selbst von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern aufgegeben wird, wo die Kernprobleme der deutschen Migrationspolitik liegen – und wie ein Einzelner sie zum Teil lösen kann. Aber auch, woran er nur scheitern kann.
Eine triste Betonwüste: der Ehrenzeller Platz in Essen
Wolfgang Zacheja steckt einen Button mit seinem Namen an sein T-Shirt und wirft den schwarzen Rucksack über die Schulter. „Noch ist es schön, aber es soll ja später regnen“, sagt er und schließt die Tür seines Büros ab. „Wolfgang, ich wollte mal fragen, ob du ‘ne Wohnung für mich hast?“, ruft ein Mann schon von weitem. Der Mann trägt eine graue Jogginghose, ein T-Shirt mit Löchern und eine Bierdose in der Hand. „Gib mir mal deine Nummer, dann melde ich mich bei dir“, antwortet Zacheja.
Der Ehrenzeller Platz vor Zachejas Büro ist mitten in Altendorf, eine triste Betonwüste. Auf Bänken lassen Wohnungslose und Drogenabhängige die Tage an sich vorbeiziehen. „Hast Du schon gehört, der Andreas ist gestorben?“, sagt eine junge Frau. „Die Beerdigung ist nächsten Freitag. Wir wollten alle zusammen hingehen und uns vorher hier treffen. Kommst du mit?“, fragt ein anderer. Natürlich ist er dabei, sagt Zacheja.
Mit dem Finger zeigt er auf eine Steinplatte im Boden, auf der eine blaue Vase mit Blumen, vier rote Kerzen und eine kleine Engelsfigur stehen. Die Gedenkstätte erinnert an all diejenigen, die den Kampf gegen die Drogen verloren haben. „Das habt ihr toll gemacht“, sagt Zacheja in die Runde. Er verurteilt nicht, dass viele von ihnen ab nachmittags nicht mehr klar denken können. Dass sie mit Schlagstöcken aufeinander losgehen, weil der Hund des einen den anderen gestört hat. „Wenn die Kloppereien losgehen, schicke ich die einfach weg. Das machen die dann auch, die respektieren mich ja.“
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Wenn man von den Parkbänken über den Ehrenzeller Platz schaut, fällt ein Gebäude am Straßenrand auf. Die einst gelbe Fassade des Kiosks ist längst verblasst. Im Schatten eines Gerüstes hat es sich ein Mann mit leerem Blick in einem Plastikstuhl gemütlich gemacht. Zigaretten, Energy-Drink, Chips und jede Menge Dosen-Bier. Vor allem Paderborner. „Das ist am billigsten“, sagt Hüsseyin Eldes über seine Bestseller.
Dosenbier und Zigaretten: Grundversorger an Essens Ehrenzeller Platz
Mit seinem Kiosk ist er seit zehn Jahren Grundversorger am Ehrenzeller Platz. „Klaus hat den Zeh abgenommen bekommen. Wusstest du das schon?“, fragt Zacheja den Kiosk-Besitzer. Eldes nickt. Erst vor ein paar Wochen waren sie zusammen auf der Beerdigung eines anderen Drogenabhängigen. „Aber eigentlich ist doch alles gut in Altendorf“, sagt Eldes leise, mit einem Lächeln im Gesicht.
Eldes war einer der ersten, zu denen Zacheja Kontakt aufgenommen hat, als er in Altendorf mit seiner Arbeit begann. „Wolfgang, ich habe Müllbeutel besorgt, damit wir den Müll zwischen den Bänken aufsammeln können“, unterbricht der Mann, der eben noch im Plastikstuhl vor dem Kiosk saß, die beiden Männer an der Kasse. „Die hätte ich euch doch auch besorgen können“, sagt Zacheja. „Nein, es ist ja unser Platz. Also müssen wir darauf achten, dass er sauber ist“, sagt der Mann. Dann setzt er sich wieder auf den Stuhl und rückt die Plastiktüten neben sich zurecht. Sie sind sein einziger Besitz.
„Warum tust Du dir das an?“ Wie oft er diese Frage beantworten musste, als er vor zwei Jahren sein Büro in Altendorf eröffnete, kann Wolfgang Zacheja gar nicht mehr sagen. Er wohnt am anderen Ende vom Essen. Im reicheren Süden, der durch die A40 vom ärmeren Norden getrennt wird. Zwei Welten, die nur selten aufeinandertreffen.
Doch Zacheja hat zu Altendorf eine besondere Verbindung. Als Jugendbeauftragter der Polizei war er hier etliche Male im Einsatz, kennt die Probleme des Stadtteils so gut wie kein anderer. „Ich habe schon mit den Sozialarbeitern hier vor Ort zusammengearbeitet, als das für die meisten Polizisten noch gar kein Thema war“, erzählt er, während er vom Ehrenzeller Platz Richtung Altendorfer Straße läuft.
Mädchentreff „Perle“ in Essen-Altendorf
Zacheja bleibt vor einem Haus stehen. Über der Eingangstür baumelt ein pinkes Schild mit dem Schriftzug „Perle“. In dem Mädchentreffpunkt kommen seit 30 Jahren Kinder und Jugendliche aus dem Stadtteil zusammen, um Hilfe bei den Hausaufgaben zu bekommen, zu malen oder zu reden.
Mit Leiterin Ruth Köhler arbeitet Zacheja seit Jahren zusammen. „Damals war es noch so: Sozialarbeiter mochten Polizisten nicht. Ihr wart für viele ,die Bullen‘“, sagt Köhler. „Und ihr hattet dieses Klischee im Kopf: Sozialarbeiter machen ja nichts. Die kiffen nur.“ Zacheja lacht. „Aber wir haben das durchbrochen“, sagt er. „Wir sind Vorreiter, dass man sich gegenseitig in seiner Rolle akzeptiert und nur so etwas bewirken kann.“
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Schon damals hat Zacheja die Probleme in Altendorf gesehen, wollte die Abwärtsspirale stoppen, in die so viele Jugendliche geraten. Als Polizist konnte er nur wenig tun. Als Streetworker ist das anders. Jetzt hat er viel mehr Zeit, die Leute vor Ort kennenzulernen und individuell auf ihre Probleme einzugehen.
Türkischer Kaffee und klebriges Baklava
Deshalb sitzt er jetzt auch im türkischen Café an der Altendorfer Straße anstatt im heimischen Garten. Es riecht nach Zucker und Schokolade. Zacheja bestellt einen schwarzen Kaffee und klebrige Baklava. Früher, als er noch bei der Polizei gearbeitet hat, war Zuwanderung eher ein „Problem-Thema“ für ihn.
Heute sieht er die Vielfalt als Bereicherung. Im „Cake Royal“ genießt er die türkischen Backwaren, im türkischen Supermarkt „Depo“ kauft er Gewürze, im syrischen Barber-Shop lässt er sich die Haare schneiden. Eigentlich, sagt Zacheja, nachdem er einen Schluck genommen hat, sei Altendorf wie New York. Ein Schmelztiegel, an dem die unterschiedlichsten Leute zusammenkommen.
„Es ist ein einziger Dreckstall“
Aber wie in New York seien da in Altendorf eben auch die Berge an Müll. Wie schlimm es ist, zeigt Zacheja einige Meter weiter. Er biegt von der Altendorfer Straße ab zu den Hinterhöfen der vielen Dönerläden, Kioske und Schnellrestaurants. Hier vor den Mehrfamilienhäusern stapelt sich der Sperrmüll. Die meisten Container sind leer, der Müll liegt daneben auf der Straße. „Das lockt natürlich die Ratten an.“
Zacheja zeigt auf ein Rattenloch an einer Hauswand. Jemand hat versucht, das Loch mit Bauschaum abzudichten. „Das bringt auf Dauer nichts“, sagt Zacheja. Dann blickt er Richtung Hinterhof. „Und da drüben, sieht man ein weiteres ganz großes Problem: Die Leute schmeißen ihren Müll einfach aus dem Fenster. Es ist ein einziger Dreckstall. Aber das wird von allen einfach ignoriert. Ist halt Altendorf.“
Als er die Straße im Hinterhof entlangläuft, biegt auf einmal ein schwarzer Audi um die Ecke. Im Auto sitzen zwei junge Männer. „Clan-Mitglieder“, sagt Zacheja, der in diesem Moment seine Körperhaltung ändert. Seine Schultern hängen unter dem Rucksack nun nicht mehr herunter, mit den Augen fixiert er den Wagen. Dabei lächelt er und winkt ihnen zu. Ob er in solchen Momenten keine Angst hat? „Quatsch. Die gucken ja nur. Die wissen, dass wir nichts tun.“
Gegen die Clans sei man ein Stück weit machtlos. Mit geklauten Autos handeln sie auf offener Straße. Im Wettbüro um die Ecke werden Drogen gegen Wettscheine getauscht. Das System habe man seit Jahren durchschaut. Polizei-Kontrollen gab es schon etliche und es wird sie auch in Zukunft geben. „Aber man kann damit nur Nadelstiche setzen. Selbst wenn man hier eine Streife den ganzen Tag lang hinstellt, sind die Drogenhändler ganz schnell weg und machen einfach in der Innenstadt weiter.“
Razzien, Massen-Schlägereien oder Tumulte: Sogenannte Einsätze und Lagen zu bewältigen, damit habe die Polizei in Altendorf mehr als genug zu tun. „Präventive Arbeit kann gar nicht als Schwerpunkt der polizeilichen Arbeit gesehen werden, dafür fehlt es an Kapazitäten“, sagt Zacheja.
Sprachbarriere als großes Problem
Er geht zurück auf die Altendorfer Straße in ein türkisches Restaurant, in dessen Hinterhof sich der Müll stapelt. „Wie geht’s?“, fragt Zacheja den Besitzer. „Gut, gut. Aber ich habe keine Zeit. Gerade ist viel los. Mittagsgeschäft“, sagt der Mann in gebrochenem Deutsch. „Gut, dann komme ich ein anderes Mal wieder“, sagt Zacheja.
Wie der Restaurantbesitzer sprechen viele Zugezogene in Altendorf kaum oder gar kein Deutsch. Die Sprachbarriere ist ein großes Problem für Zachejas Arbeit. „Viele Familien, die ich jetzt schon lange kenne, sind sehr offen. Aber ich würde mir schon wünschen, dass sie sich teilweise mehr bemühen. Wenn sie in Deutschland leben wollen, dann sollen sie doch bitte auch die Sprache lernen. Zumindest Grundbegriffe, um am sozialen Leben teilnehmen zu können. So kann ich sie ja nicht mal eben anrufen, wenn etwas anliegt, sondern muss immer mit einer Sprachmittlerin vorbeikommen. Das ist Mist“, sagt Zacheja.
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Dass viele Menschen in Altendorf kein oder nur schlechtes Deutsch sprechen, verhindere auch, dass die „Ur-Anwohner“ mit den „Zugezogenen“ in Kontakt kommen. Zacheja versteht sich als Vermittler zwischen beiden Seiten. „Viele Ur-Anwohner sind natürlich frustriert. ,Früher war alles besser. Jetzt ist alles ganz schrecklich‘, das wird mir immer wieder gesagt. Ich antworte dann immer: ,Stellen Sie sich doch mal vor, die ganzen Zugezogenen wären weg. Es wäre leer. Es würde aussehen wie nach einem Atomkrieg.‘ Mittlerweile merke ich, dass immer mehr von den Älteren auch in den türkischen Geschäften einkaufen gehen.“ Es sind die kleinen Erfolge, die Zacheja dazu bringen, weiterzumachen.
„Kaum geht man von der Straße, ist man mitten im Orient“
Sein Rundgang durchs Viertel endet an einem irakischen Restaurant. In dem großen Saal ohne Fenster stehen runde Tische mit weißen Decken und silberglänzenden Kerzenhaltern. Männer und Frauen feiern hier Hochzeiten getrennt voneinander. „Kaum geht man von der Straße, ist man mitten im Orient“, sagt Zacheja.
Der Restaurant-Besitzer begrüßt ihn – und führt ihn dann direkt wieder aus dem Lokal heraus. Vor der Tür zeigt er auf eine kleine Grünfläche unter einem Baum und lächelt Zacheja an. „Da lag früher nur Müll rum. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie schlimm das aussieht. Jetzt übernimmt er Verantwortung für einen Bereich, der ihm nicht gehört, sondern für den eigentlich die Stadt zuständig ist“, sagt Zacheja. Ein kleines Stück Altendorf, auf dem jetzt bunte Blumen wachsen und nicht die Müllberge.
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