Essen. Die Umstellung auf Wasserstoff soll die Luft im Ruhrgebiet reiner machen. Auf Menschen und Unternehmen warten aber zunächst viele Belastungen.

Ruhrgebiet bezeichnet sich gern als „Energieregion mit Tradition und Zukunft“. Mitte des 19. Jahrhunderts waren es Rhein, Ruhr, Emscher und vor allem die Steinkohle, die Unternehmen in die bis dato landwirtschaftlich geprägte Region lockten. Auf die Industrialisierung soll nun eine weitere umfassende Transformation folgen. Das Ruhrgebiet will Modellregion für Wasserstoff und grünste Industrieregion Europas werden. Doch die Hürden sind hoch.

Das Ziel ist klar: Um das Ziel zu erreichen, Deutschland bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu machen, muss der Ausstoß von Kohlendioxid massiv gesenkt werden. Kohle, Gas und Öl sollen bei der Erzeugung von Energie weitgehend durch Wasserstoff ersetzt werden, der durch Einsatz erneuerbarer Energien gewonnen wird.

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Diese Transformation wird vor allem im Ruhrgebiet spürbar. Bundesweit entstehen hier die meisten CO2-Emissionen: Von den jährlich 83 Millionen Tonnen entfällt der Löwenanteil mit mehr als 67 Millionen Tonnen auf die hiesige Industrie. Allein an Europas größtem Stahlstandort Duisburg bläst Thyssenkrupp Steel 2,5 Prozent der deutschen CO2-Emissionen in die Luft. Aber auch die im Revier stark vertretene Chemieindustrie gehört zu den bedeutenden Emittenten.

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Um Gas, Kohle und Öl klimaneutral zu ersetzen, braucht die Ruhrwirtschaft riesige Mengen grünen Wasserstoff. Nach aktuellen Planungen wird die Metropole Ruhr im Jahr 2027 rund 47 Prozent des gesamten Wasserstoff-Bedarfs der Bundesrepublik Deutschland für sich reklamieren. Allein Thyssenkrupp Steel wird in Duisburg für den Betrieb der ersten Direktreduktionsanlage, die grünen Stahl produziert, täglich die doppelte Menge Wasserstoff benötigen, die der Gasometer in Oberhausen fasst – oder jährlich fast 250 Millionen Lkw-Ladungen.

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Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zeigen sich aber zuversichtlich, dass die riesigen Mengen Wasserstoff über ertüchtigte und neu gebaute Pipelines ins Ruhrgebiet gebracht und vor Ort erzeugt werden können. Regional und kommunal haben sich eine Fülle von Initiativen gegründet, die konkrete Projekte angestoßen haben. So haben sich die Unternehmen BP Europa, OGE, RWE, Thyssenkrupp, Thyssengas und Vonovia mit der Hydrogen Metropole Ruhr (HyMR) des Regionalverbands Ruhr (RVR) und der Business Metropole Ruhr (BMR) zusammengeschlossen, um die Wasserstoffwirtschaft im Revier voranzubringen. „Wenn, dann hier“, lautet das Motto der Initiative.

Diese Trassen sind geplant

Das Ruhrgebiet verfügt nach Einschätzung des Regionalverbands Ruhr über das dichteste Erdgasnetz in Europa. Da es in den überwiegenden Teilen doppelsträngig gebaut ist, sei es wasserstofftauglich. Ein 240 Kilometer langes Leitungsnetz aus dem Jahr 1938 existiert bereits, um die hiesige chemische Industrie mit Wasserstoff zu versorgen. Dieses soll ertüchtigt werden. Weitere Pipelines sind in der Planung:

Hep (Heek-Epe): Wichtiger Bestandteil des künftigen Wasserstoffnetzes im Ruhrgebiet soll die geplante Leitung Hep zwischen Heek und Epe im Münsterland sein. Das elf Kilometer lange Teilstück soll die bestehende Leitung Nummer 13, die von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt wird, mit dem ersten Wasserstoffspeicher verbinden, den der Energiekonzern RWE in Epe bauen will. Partner des Projekts HEP sind der Essener Netzbetreiber Open Grid Europe (OGE) und die Nowega, ein Fernleitungsnetzbetreiber aus Münster. Das Planfeststellungsverfahren soll in diesem August beginnen. Der Baubeginn ist im Frühjahr 2025, die Inbetriebnahme Ende September 2025 vorgesehen.

DOHA (Dorsten - Hamborn): Um Europas größten Stahlstandort Duisburg, mit ausreichend Wasserstoff zu versorgen, wollen die Partner Open Grid Europe (OGE, 70 Prozent) und Thyssengas (30 Prozent) eine 42 Kilometer lange Leitung von Dorsten nach Duisburg-Hamborn bauen. Mit dem Wasserstoff will Thyssenkrupp dort den ersten grünen Stahl ohne Zusatz von Kohle produzieren. Den Start des Planfeststellungsverfahrens erwartet OGE im Januar 2024. Die Bauarbeiten sollen im Dezember 2025 beginnen und Ende 2026 abgeschlossen sein. In Duisburg hat bereits eine erste Informationsveranstaltung für Anwohnerinnen und Anwohner stattgefunden.

DOMA (Dorsten – Marl): Nicht nur am Stahlstandort Duisburg ist der Durst nach Wasserstoff gewaltig. Das gilt auch für den Chemiepark Marl, wo unter anderem der Chemiekonzern Evonik große Produktionsanlagen betreibt. Open Grid Europe und Nowega wollen deshalb eine neun Kilometer lange Pipeline von Dorsten nach Marl bauen. Das Planfeststellungsverfahren soll im Februar 2024 beginnen. Ende 2026 soll die Wasserstoffleitung in Betrieb gehen.

H2.Ruhr: Als „Scharnier“ zwischen dem Ruhrgebiet und Südwestfalen versteht sich das Wasserstoff-Infrastrukturprojekt H2.Ruhr, das der Essener Energieriese Eon gemeinsam mit den Partnern Enel, Iberdrola, ABB und SAP stemmen will. Das Konsortium hat sich zum Ziel gesetzt, eine industrielle Wertschöpfungskette für grünen Wasserstoff aufzubauen. Strom aus erneuerbaren Quellen soll aus Südeuropa kommen, um Industriezentren in Mittel- und Nordeuropa mit grünem Wasserstoff und Ammoniak als Speichermedium zu versorgen. Schwerpunkt der europäischen Initiative soll das Ruhrgebiet sein. Geplant ist eine Wasserstoff-Pipeline zunächst zwischen Essen und Duisburg, die dann schrittweise nach Bochum und Dortmund ausgeweitet werden soll.

Delta Rhein Korridor: Die Konzerne BASF, Gasunie, OGE und Shell haben eine Machbarkeitsstudie zum Bau von grenzüberschreitenden Wasserstoff- und Kohlendioxid-Pipelines in Auftrag gegeben. Nach bisherigen Planungen soll ab 2028 CO2-armer Wasserstoff vom Seehafen Rotterdam über Venlo in industrielle Hochburgen wie Duisburg, Gelsenkirchen, Köln, Ludwigshafen und Chemelot geleitet werden. Der Baubeginn ist für 2026 geplant.

Jörn Kleinelümern und Niklas Reinert, die seit Anfang 2022 das HyMR-Büro in Essen betreiben, haben eine Reihe von Zahlen und Fakten zusammengestellt, die aus ihrer Sicht dafür sprechen, dass das Ruhrgebiet Modellregion für Wasserstoff werden kann: Im Revier ist die Energiewirtschaft mit rund 200 Unternehmen, 50.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 42 Milliarden Euro stark vertreten. Mehr als die Hälfte dieser Firmen sind direkt in der Wasserstoffwirtschaft tätig. Durch das Hochfahren könnten zwischen Wesel und Hamm einer Studie zufolge rund 40.000 neue Arbeitsplätze entstehen.

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Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. In Kreisen von Wirtschaft und Politik heißt es, dass es am Ende nicht am Geld liegen wird, obwohl die Transformation viele Milliarden Euro verschlingen wird. Sorge bereitet den Verantwortlichen viel mehr, dass die riesigen Mengen grünen Wasserstoffs auch zeitnah den Unternehmen, die darauf angewiesen sind und sein werden, zur Verfügung steht.

Sorge vor Verzögerungen bei Genehmigungen

Regionaldirektorin Karola Geiß-Netthöfel ist vor allem in Sorge, dass die Pipelines nicht schnell genug gebaut werden können. Sie selbst sagt zu, dass ihr Haus die Raumverträglichkeitsverfahren für die einzelnen Projekte rasch abwickeln werde. „Bei den anschließenden Genehmigungsverfahren brauchen wir mehr Tempo. Hier ist vor allem die Bundesregierung gefragt, neue Regelungen zu schaffen, die die Verfahren erleichtern“, sagte Geiß-Netthöfel vor einigen Wochen. Der RVR setzt vor allem auf das „Wasserstoffbeschleunigungsgesetz“, das der Bund gerade in Vorbereitung hat.

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„Am Ende wird es auch Eingriffe in die Umwelt geben. Dort, wo bisher eine Brache war, stehen dann vielleicht Elektrolyseure, die Platz verbrauchen, in die Höhe ragen und die Schaffung vergleichsweise weniger Arbeitsplätze im Betrieb nach sich ziehen, aber dafür viele Jobs in der Industrie sichern“, prophezeit der Duisburger Wirtschaftsförderer Rasmus Beck und stimmt die Bevölkerung auf Baustellen und den Bedarf zusätzlicher Gewerbeflächen ein. „Eine große Aufgabe wird sein, die Zivilgesellschaft bei der Transformation mitzunehmen. Es wird viel zu erklären geben“, sagt Michael Hübner, Geschäftsführer des Vereins Hy Region Rhein-Ruhr.

Netzbetreiber wollen Bürger einbeziehen

Netzbetreiber wie Open Grid Europe und Thyssengas haben bereits damit begonnen, Bürgerinnen und Bürger, die in der Nähe künftiger Wasserstoff-Trassen leben, einzubinden. Die HyMR kündigt überdies Transparenz an. Die Ertüchtigung bestehender Leitungen sei meist ohne größere Beeinträchtigungen für Anwohnerinnen und Anwohner möglich.

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Die Geschwindigkeit dürfte auch davon beeinflusst werden, ob die Bürgerinnen und Bürger mitziehen werden. Denn auf sie kommen sichtbare Veränderungen zu. Bei der Ertüchtigung bestehender Leitungen müssten zumeist lediglich Verdichterstationen erneuert und Ventile ausgetauscht werden, betonen die Experten von HyMR. Größere Baustellen werden sich dagegen auftun, wenn die neuen Pipelines und Trafostationen gebaut werden. Die Verantwortlichen haben sich laut Jörn Kleinelümern und Niklas Reinert zum Ziel gesetzt, an Orten zu bauen, „wo die Beeinträchtigung von Bürgerinnen und Bürgern meist gering sein wird, also außerhalb des dichtbesiedelten Raumes oder entlang bestehender Trassen“. Im Vergleich zu anderen Regionen seien die Einschnitte im Ruhrgebiet gering.