Duisburg/Essen. Stahlkrise rund um Thyssenkrupp und HKM erinnert an historischen Arbeitskampf. HKM-Verkauf im Gespräch. Ruf nach NRW-Landesregierung.
Als Marco Gasse die Bühne vor der Konzernzentrale von Thyssenkrupp Steel betritt, wird es laut. Tausende Stahlarbeiter haben sich Ende April auf der Wiese am weitläufigen Werksgelände im Norden Duisburgs versammelt, darunter auch viele Beschäftigte der Hüttenwerke Krupp Mannesmann aus dem Süden der Stadt. „Stahl ist Zukunft“, skandiert Gasse, zunächst allein, dann gemeinsam mit der Belegschaft, als wollten sich die Menschen damit Mut machen. Schon seit Monaten ist die Unsicherheit groß. Hat HKM eine Zukunft? Was ist dran an den Gerüchten über eine drohende Schließung?
Bei HKM geht es um eines der größten Hüttenwerke in Deutschland: Zwei Hochöfen, eine Kokerei, ein Gaskraftwerk und jede Menge weitere Großanlagen gehören zum Betrieb. Mit Thyssenkrupp Steel und Salzgitter sind die beiden wichtigsten deutschen Stahlkonzerne die tonangebenden Eigentümer des Duisburger Traditionsunternehmens. Thyssenkrupp Steel ist mit 50 Prozent an HKM beteiligt, 30 Prozent liegen bei Salzgitter. Hinzu kommt der französische Konzern Vallourec, ein Hersteller von Stahlrohren, der sich aus Deutschland zurückziehen will. Bislang produziert HKM tonnenweise Material, das in Werken an zahlreichen nordrhein-westfälischen Thyssenkrupp-Standorten weiterverarbeitet wird: in Duisburg-Hamborn, Bochum, Hagen-Hohenlimburg und im Siegerland. Mit HKM geht es auch ums große Ganze bei Deutschlands größtem Stahlkonzern.
HKM-Betriebsratschef Marco Gasse erinnert an den Arbeitskampf um das Stahlwerk in Rheinhausen. 30 Jahre liegt die Schließung des Standorts aus dem Krupp-Konzern mittlerweile zurück. Rheinhausen – das ist auch der Inbegriff für den erbitterten Konflikt eines Managements mit der Arbeitnehmerschaft. „Wiederholen Sie diese Fehler nicht“, ruft Marco Gasse Thyssenkrupp-Chef Miguel López und Stahlchef Bernhard Osburg zu. „Wir sind kampfbereit.“ Neben Gasse liegt der legendäre Stahlhammer auf dem Rednerpult, den die Belegschaftsvertreter immer dann hervorholen, wenn es ernst wird. „Wir sind bereit, geschlossen, gemeinsam und solidarisch für alle unsere Standorte und unsere Arbeitsplätze zu kämpfen“, ruft Gasse den Beschäftigten zu.
Erinnerungen an einen historischen Arbeitskampf in Duisburg
Vom Hafen der HKM im Süden Duisburgs bietet sich ein guter Blick auf den früheren Krupp-Stahlstandort Rheinhausen. Wo früher Hochöfen standen, haben längst Logistiker ihre Hallen aufgebaut. Auch ein heftiger Arbeitskampf konnte nicht verhindern, dass es letztlich hieß: Ofen aus. „Es gilt zu verhindern, dass sich die Geschichte von Rheinhausen in Duisburg wiederholt“, sagt Gasse.
HKM ist auch Thema, als Stahl-Beschäftigte am 21. Juni vor der Villa Hügel in Essen protestieren. Karsten Kaus, der Geschäftsführer der IG Metall Duisburg-Dinslaken, ergreift das Wort auf dem Gelände der Thyssenkrupp-Großaktionärin Krupp-Stiftung. Er beklagt, wie die Belegschaft von HKM im Unklaren gelassen werde. Niemand wisse offiziell, „was man mit ihnen vorhat“, kritisiert Kaus. Dies sei vor wenigen Tagen auch bei Betriebsversammlungen von HKM thematisiert worden. Dort sei erörtert worden, „dass es Bestrebungen geben könnte“, die HKM zu schließen. „Ihr könnt euch vorstellen: Das war Beerdigungsstimmung auf der Betriebsversammlung“, berichtet Kaus den Teilnehmern der Protestveranstaltung vor der Villa Hügel.
HKM-Betriebsratschef Gasse: „Zweites Rheinhausen verhindern“
Planspiele für eine Zukunft von HKM ohne die bisherigen Eigentümer Thyssenkrupp Steel, Salzgitter und Vallourec laufen. Das Ziel müsse sein, die Hüttenwerke „überlebensfähig aufzustellen“, sagt Kaus – im besten Fall mit einem Verbleib bei Thyssenkrupp, gegebenenfalls aber auch mit neuen Eigentümern. Auch ein Verkauf der HKM sei ein mögliches Szenario.
HKM-Betriebsratschef Gasse sagt, ein „zweites Rheinhausen“ lasse sich verhindern, „wenn es ein faires und transparentes Verfahren zu einem Verkauf von HKM gibt“. Trotz der schwierigen Lage von Deutschlands Stahlindustrie sieht der Arbeitnehmervertreter in einem Eigentümerwechsel ein realistisches Szenario. Er wisse von Interessenten für die HKM, erzählt Gasse, ohne Namen zu nennen. Engagement erhofft er sich auch von der Landesregierung mit Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) an der Spitze. „Als Belegschaft erwarten wir, dass uns die NRW-Landesregierung darin unterstützt, eine Perspektive für die Zukunft von HKM zu entwickeln“, sagt Gasse.
Der Druck, der auf HKM lastet, ist groß, auch weil der französische Rohrhersteller Vallourec seine HKM-Beteiligung aufgeben und sich aus Deutschland zurückziehen will. Das Aus für Vallourec-Werke in Düsseldorf und Mülheim ist schon vor einigen Monaten besiegelt worden. Damit ist nach Angaben der IG Metall bereits ein Wegfall von etwa 2700 Arbeitsplätzen verbunden. Bei HKM in Duisburg arbeiten rund 3100 Beschäftigte.
IG Metall: Tausende Arbeitsplätze in NRW von HKM abhängig
Die IG Metall geht allerdings davon aus, dass weitere rund 3000 Arbeitsplätze bei Thyssenkrupp von den HKM-Jobs abhängen, zusätzlich dazu 5000 Stellen in Südwestfalen. Denn die Hüttenwerke im Süden Duisburgs stehen am Anfang einer langen Wertschöpfungskette. HKM hat die Rolle eines Zulieferbetriebs für Thyssenkrupp Steel, Salzgitter und Vallourec. Laut Bundesanzeiger gibt es festgelegte Abnahme- und Lieferverpflichtungen, die vertraglich geregelt sind – mit langen Kündigungsfristen. Von Vallourec sei der Kooperations- und Liefervertrag zum 31. Dezember 2028 gekündigt worden, heißt es im Bundesanzeiger.
Seit Monaten hoffen Arbeitnehmervertreter auf Entscheidungen für Investitionen, die den Bestand der Hütte sichern sollen. Derzeit betreibt HKM zwei der insgesamt sechs Hochöfen am Stahlstandort Duisburg. Einer der beiden Hochöfen von HKM könnte voraussichtlich noch bis ins Jahr 2028 laufen, vielleicht etwas länger, vielleicht auch etwas kürzer. Der zweite Hochofen hat Schätzungen der IG Metall zufolge eine Perspektive bis etwa 2032.
Nur für einen von sechs Hochöfen in Duisburg gibt es bislang eine Lösung
Erst für einen der sechs Duisburger Hochöfen gibt es bislang eine Nachfolgelösung. Im Juli vergangenen Jahres hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf dem Gelände von Thyssenkrupp Steel symbolisch einen Scheck über fast zwei Milliarden Euro aus der Staatskasse präsentiert. Mit der Förderung wollen der Bund und das Land NRW den Bau einer Direktreduktionsanlage (DRI-Anlage) unterstützen, mit deren Hilfe „grüner Stahl“ in einigen Monaten produziert werden soll. Doch damit ist bislang nur ein Teil der Stahl-Arbeitsplätze abgesichert. „In Duisburg warten noch fünf weitere Hochöfen, die zur Transformation anstehen“, sagt Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol beim Habeck-Besuch im vergangenen Jahr. „Die Politik bleibt weiter in der Pflicht.“
Neue, klimafreundliche Anlagen müssten auch bei HKM die alten Aggregate ersetzen, damit der Standort eine Zukunft hat. „Wir setzen auf das DRI-Modell“, so formuliert es HKM-Betriebsratschef Gasse schon vor Monaten. Doch bislang lässt eine Entscheidung der Eigentümer auf sich warten. Der Bau einer milliardenschweren DRI-Anlage wäre die größte Investition in der Geschichte von HKM. Doch ob das Großprojekt noch eine Chance hat, ist fraglich.
Anfang 2023 blickt der langjährige Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme im Deutschlandfunk auf den Kampf um Rheinhausen zurück. Cromme war es, der als junger Krupp-Chef die Schließung des Standorts durchgesetzt hat. „Praktisch pleite“ sei Krupp gewesen, erzählt Cromme. Als damaliger Konzernchef sucht er das Heil in einem Zusammengehen mit den Mannesmann-Werken, die in Duisburg-Huckingen ebenfalls ein Stahlwerk betrieben haben. Die Konsequenz für die Krupp-Standorte: „Rheinhausen musste geschlossen werden.“ Auch heute stehe er zu den Entscheidungen, die er getroffen habe. „Für mich war völlig klar: Das war richtig, das musste gemacht werden. Und ich war unter gar keinen Umständen bereit, da faule Kompromisse einzugehen.“
Dieser Tage zeigt sich Thyssenkrupp-Vorstandschef Miguel López ähnlich entschlossen, Einschnitte in der Stahlsparte vorzunehmen. „Viel zu lange ist viel zu wenig passiert bei Thyssenkrupp“, sagt López im Juni vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung (WPV) im traditionsreichen Düsseldorfer Industrie-Club. „Die Lage ist kritisch und ohne entschlossenes Gegensteuern kann sie schnell existenzbedrohend werden“, mahnt der Manager. Noch im Sommer will der Konzern einen neuen „Businessplan“ für den Stahl vorlegen, in dem es auch um einen erheblichen Arbeitsplatzabbau gehen dürfte. Und über allem schwebt die Frage: Was wird aus HKM?
Der Grünen-Bundestagsabgeordneten Felix Banaszak blickt mit Sorge auf den Thyssenkrupp-Komplex. „Es geht hier nicht um irgendeine Klitsche, sondern um Deutschlands größten Stahlkonzern, der Duisburg und das Ruhrgebiet entscheidend prägt“, sagt Banaszak, der selbst Duisburger ist. „Der soziale Frieden steht auf dem Spiel. Nicht umsonst werden Erinnerungen an den großen Arbeitskampf 1987 in Rheinhausen wach.“
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