Essen. Jürgen Kerner, der Zweite Vorsitzende der IG Metall, fordert Klarheit von Kretinsky zu Thyssenkrupp: „Seit Monaten gab es keinen Kontakt mehr.“
Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall und Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp, will am 1. Mai in Duisburg zum Tag der Arbeit sprechen. Wenn Kerner die großen Herausforderungen der Industrie in Deutschland beschreibt, spielt Duisburg eine wichtige Rolle. Was wird aus dem Stahlstandort von Thyssenkrupp? Hat HKM eine Zukunft? Wie sich Kerner mit seiner IG Metall positioniert, dürfte dabei Einfluss haben. In unserem Interview spricht Kerner auch darüber, wie er zum tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky steht, der bei Thyssenkrupp Steel einsteigen will.
Herr Kerner, in den vergangenen Monaten ist es in der Öffentlichkeit still geworden um den tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky und seine Gespräche zum Einstieg bei Thyssenkrupp Steel. Jetzt geht es plötzlich ganz schnell. Ist die IG Metall überrumpelt worden?
Kerner: Wir haben uns bekanntlich nie prinzipiell gegen einen Investor ausgesprochen. Wir haben immer betont, dass unsere Türen offen sind für Herrn Kretinsky. Es kam wenig zurück. Seit Monaten gab es keinen Kontakt mehr. Von der Entscheidung über den Einstieg seiner EP Corporate Group haben wir nur wenige Stunden vor der Öffentlichkeit erfahren. Das ist einmal mehr schlechter Stil und ein weiterer Bruch mit der Mitbestimmung. Ich gebe zu bedenken: Manager kommen und gehen, die IG Metall bleibt.
Worauf müssen sich die Beschäftigten nach dem Deal von Thyssenkrupp-Chef Miguel López mit Kretinsky einstellen?
Kerner: Das wüssten wir auch gerne. Uns liegen keine Konzepte, keine Details vor. Wir erwarten, dass die Herren López und Kretinsky jetzt Substanz liefern.
Was sind die entscheidenden Punkte aus Sicht der IG Metall?
Kerner: Wir brauchen jetzt schnell ein tragfähiges Zukunftskonzept für den weiteren Umbau Richtung grüne Stahlproduktion. Was die angekündigte Restrukturierung beim Stahl angeht, verlangen die Beschäftigten baldige Klarheit darüber, wie es weitergeht. Und sie erwarten Sicherheit für ihre Arbeitsplätze. Herr Kretinsky und die Thyssenkrupp AG müssen jetzt Verantwortung übernehmen. Das bedeutet: Keine Kündigungen, keine Standortschließungen, Einhaltung von Tarifverträgen und Vereinbarungen.
Thyssenkrupp Steel hat angekündigt, die Kapazitäten zur Stahlproduktion verringern zu wollen. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Kerner: Wir können uns den Markt nicht schönbeten. Wir wissen, was zuletzt an Stahl produziert worden ist, und das ist weniger, als die Anlagen hergeben. Mit den Realitäten müssen wir uns auseinandersetzen. Aber klar ist: Sollte das Management Entscheidungen gegen die Interessen der Beschäftigten durchdrücken wollen, dann knallt es. Betriebsbedingte Kündigungen darf es nicht geben.
Kretinsky ist bereits in der Energieindustrie aktiv. Das sei ein großer Vorteil bei der geplanten Zusammenarbeit, sagt Thyssenkrupp-Chef Miguel López. Sehen Sie das auch so?
Kerner: Das kann gut funktionieren. Es kommt jetzt auf die Details an. Da sind leider noch viele Fragen offen. Am Ende ist entscheidend, dass wirklich Geld in die Hand genommen und konsequent in die Zukunft des Unternehmens investiert wird.
Kretinsky steigt zunächst einmal nur mit 20 Prozent ein, aber er strebt 50 Prozent an. Gut so?
Kerner: Das wäre der logische nächste Schritt in Richtung eigenständiger Aufstellung. Diese Eigenständigkeit muss aber durch eine entsprechende Ausstattung gesichert sein. Weg mit Schaden werden wir nicht akzeptieren.
Was bliebe noch von Thyssenkrupp, wenn es ein Konzern ohne Stahl wäre?
Kerner: Thyssenkrupp hätte eine Zukunft als fokussierter Industriekonzern. Bekanntermaßen können wir uns auch eine Abspaltung der Marine-Sparte von Thyssenkrupp vorstellen. Es blieben noch wichtige Bereiche wie Automotive Technology, Materials Services und Decarbon Technologies. Heute ist doch die brutale Wahrheit: Bei Thyssenkrupp fehlt oft das Geld für Investitionen. Der „Mythos Thyssenkrupp“ ist nur begrenzt etwas wert. Daher muss sich etwas tun.
Anfang Juni ist Miguel López ein Jahr als Thyssenkrupp-Chef im Amt. Er hat schon viel Kritik von Arbeitnehmervertretern einstecken müssen. Zu Recht?
Kerner: Wir werden Herrn López auch weiterhin an seinen Taten messen. Er kündigt viel an und ein Teamspieler ist er nicht. Unserer Tür steht aber immer offen.
Läuft dem Unternehmen die Zeit davon?
Kerner: Abwarten ist jedenfalls keine Lösung. Das Unternehmen steht nicht ganz zu Unrecht in dem Ruf, ein Weltmeister im Ankündigen zu sein. Statt Ankündigungen brauchen wir aber ein beherztes Handeln. Wir haben als Arbeitnehmervertreter kein Interesse, auf Zeit zu spielen.
Auch bei den Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) im Duisburger Süden sind die Sorgen groß. Schon vor Monaten hat die IG Metall vor einer Schließung gewarnt. Wie geht es bei HKM weiter?
Kerner: Es gibt hier große Herausforderungen, das lässt sich nicht leugnen. Aber HKM ist keine Manövriermasse der Anteilseigner Thyssenkrupp Steel, Salzgitter und Vallourec.
Ist eine Schließung von HKM mit der IG Metall zu machen?
Kerner: Wir geben HKM nicht auf. In der Stahlindustrie haben wir immer bewiesen: Wenn jemand im Management auf eine Kopf-durch-die-Wand-Strategie setzt, ist Konflikt programmiert. Wir sind auch hier kampffähig.
Mit dem französischen Rohrhersteller Vallourec will einer der HKM-Anteilseigner aussteigen. Und Thyssenkrupp Steel – der 50-Prozent-Eigner – will die Stahlkapazitäten reduzieren. Ist das eine toxische Gemengelage für HKM?
Kerner: Alle Anteilseigner müssen zu ihrer Verantwortung für HKM stehen. Eine Schließungsdebatte wäre unverantwortlich. Wir reden über Deutschlands zweitgrößten Stahlhersteller, bei dem 3100 Menschen direkt beschäftigt sind. Tausende weitere Jobs hängen indirekt an HKM. Es wird jetzt auch darum gehen, einen Plan zu entwickeln, wie eine eigenständige Aufstellung von HKM möglich wäre. Die HKM ist keine Außenstelle von Thyssenkrupp oder Salzgitter, sondern ein eigenständiges Unternehmen.
Hängt eine Rettung von HKM auch von der Politik ab, die den Bau einer Direktreduktionsanlage im Duisburger Süden finanziell unterstützen müsste?
Kerner: Wenn es eine Zukunftsoption für die HKM gibt, wird es nicht an der Politik scheitern. Dafür gibt es klare Signale. Allen Beteiligten ist klar: Es funktioniert nur, wenn künftig grüner Stahl produziert wird.
Deutschlands Industrie, so scheint es, ist im Krisenmodus. Unternehmen wie Bosch, Continental, ZF, Miele und Thyssenkrupp haben Stellenabbau angekündigt. Was ist da los?
Kerner: Es gibt eine gigantische Unsicherheit in den Unternehmen. Mut, den wir viele Jahre lang hatten, ist Wut gewichen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Diesen Trend müssen wir schnell wieder drehen, sonst zerreißt es uns als Gesellschaft.
Haben Sie eine Erklärung für die Jobabbau-Welle?
Kerner: Eine besondere Verantwortung sehe ich bei den Unternehmensführungen. Wir hatten in Deutschlands Industrie lange Zeit einen unausgesprochenen Konsens, dass Arbeitsplätze nicht wegen etwas mehr Gewinnmarge ins Ausland verlagert werden – nach Osteuropa oder Asien etwa. Leider ist davon nicht mehr viel zu spüren.
Welche Rolle spielen die gestiegenen Energiepreise?
Kerner: Sie sind ein wichtiger Faktor. In Deutschland sind wir weit entfernt von einem Industriestrompreis, wie wir ihn beispielsweise mit vier Cent in unserem Nachbarland Frankreich sehen. Gleichzeitig ist absehbar, dass durch den bundesweit anstehenden Ausbau der Energienetze weitere Kosten entstehen. Das können wir nicht einfach so laufen lassen, sonst werden wir hierzulande die energieintensiven Betriebe verlieren – und dazu zähle ich nicht nur Stahlwerke, Schmieden oder Gießereien, sondern auch Rechenzentren, Halbleiterproduzenten oder Batteriefabriken. Deutschland hat generell ein Energiekostenproblem. Schon jetzt verlieren wir fast jeden Tag industrielle Betriebe in diesem Land.
Gibt es genug Unterstützung durch die Bundesregierung?
Kerner: Die Diskussion über eine höhere Staatsverschuldung ist viel zu ideologisch – nicht nur bei Teilen der Bundesregierung, sondern auch in der Opposition. In der Diskussion wird oft auf die Verantwortung verwiesen, die wir für künftige Generationen haben. Dann heißt es, wir dürften unseren Kindern nicht einen Berg von Schulden hinterlassen. Aber unsere Kinder haben doch auch nichts davon, wenn wir unsere Infrastruktur verkommen lassen – unsere Energienetze, unsere Straßen, Brücken und Bahngleise und die Industrie nicht zukunftsfähig aufstellen. Für eine Schuldenvermeidung können sich unsere Kinder auch nichts kaufen.
Droht ein Wohlstandsverlust?
Kerner: Viel hängt davon ab, wie es mit Deutschlands Autoindustrie weitergeht. Hier gibt es eine unmittelbare Verbindung zur Zukunft von Branchen wie Stahl und Maschinenbau. Wenn Deutschland hier etwas falsch macht, wirkt sich das an vielen Stellen aus. Ich erwarte daher von der Politik, dass sie die richtigen Zeichen setzt.
Zum Beispiel?
Kerner: Ich kann Ihnen ein Negativbeispiel nennen: Das abrupte Ende der staatlichen Förderung von E-Autos im November war eine Katastrophe. Wir sehen jetzt noch Verunsicherung. Mancher stellt die Elektromobilität grundsätzlich in Frage. Das ist fatal. Wir brauchen einen klaren Kurs. Nur dann kann die Industrie ihre Investitionsentscheidungen darauf abstimmen. Dazu gehört auch, dass preisgünstige Einstiegsmodelle mit Elektroantrieb in Deutschland gebaut werden.
Am 1. Mai wollen Sie in Duisburg beim Tag der Arbeit sprechen. Sie sind auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender von Thyssenkrupp. Das Unternehmen soll zwei Milliarden Euro für den Aufbau einer Grünstahl-Produktion erhalten. Hoffen Sie auf noch mehr staatliche Förderung?
Kerner: Die Bundesregierung hat schon viel gemacht – und dennoch ist noch einiges zu tun. Im Saarland ist die Perspektive klar, bei Salzgitter in Niedersachsen größtenteils auch, Arcelor-Mittal hat jetzt auch gute Voraussetzungen. Die größten Herausforderungen haben wir im Ruhrgebiet. Mit der ersten Direktreduktionsanlage für Thyssenkrupp in Duisburg kann erst ein Viertel der Produktion auf eine Grünstahl-Produktion umgestellt werden. Es bleiben also noch drei Viertel, um die wir uns kümmern müssen.
Warum hinkt Duisburg hinterher?
Kerner: Das hat sicherlich damit zu tun, dass es um den mit Abstand größten Stahlstandort in Europa geht. Daher sind die Herausforderungen im Ruhrgebiet auch besonders groß. Es geht um gewaltige Investitionen, aber auch um gewaltige Auswirkungen für den Industriestandort Deutschland.
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