Düsseldorf. Erstmals positionieren sich NRW-Unternehmerpräsident Kirchhoff und Gewerkschaftschef Giesler gegen eine Partei. Und ziehen Parallelen zu 1933.
Vor jeder großen Wahl positionieren sich Arbeitgeber und Gewerkschaften zu den wichtigen Themen, machen deutlich, was sie von der Politik erwarten. Gemeinsame Wahlempfehlungen für oder gegen eine Partei haben sie in NRW bisher nie gegeben, sondern sich in dieser Frage stets neutral verhalten. Doch „diesmal ist es anders“, sagte NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff in unserem Doppelinterview mit ihm und Knut Giesler, dem NRW-Chef der IG Metall, zur Europawahl am kommenden Sonntag. Die AfD sei nicht wählbar, sondern eine Gefahr für die Demokratie in Europa, sagen beide – und ziehen Parallelen zu 1933. Beide mahnen, diesmal müsse die Zerstörung einer Demokratie von innen verhindert werden. Erst bei den Fragen nach den großen Europathemen Green Deal, Verbrenner-Aus und Lieferkettengesetz gehen ihre Meinungen auseinander.
Herr Kirchhoff, Herr Giesler, Unternehmerverbände und Gewerkschaften haben bisher nie Wahlempfehlungen für oder gegen eine Partei gegeben. Diesmal auch nicht?
Arndt Kirchhoff: Diesmal ist es anders, diesmal gilt es, unser System zu verteidigen, unsere Freiheit, unsere Vielfalt, unsere Rechtsstaatlichkeit und unsere soziale Marktwirtschaft. Unsere Werte sind in Gefahr. Deshalb rufen wir zum ersten Mal explizit dazu auf, demokratische Parteien zu wählen und keine Extremisten. Die AfD ist aus meiner Unternehmersicht nicht wählbar.
Knut Giesler: Auch für Gewerkschafter ist die AfD nicht wählbar. NRW ist schon für sich eines der größten Exportländer Europas. Wenn wir wieder Wirtschaftsgrenzen hätten, würde das Hunderttausende Jobs in NRW kosten. Die Europafeindlichkeit der AfD gefährdet jeden einzelnen Arbeitsplatz. Noch schwerer wiegt das Gedankengut der AfD, das mit unserer solidarischen Grundeinstellung nicht vereinbar ist. Wenn die AfD selbst den Rechtspopulisten im EU-Parlament zu radikal ist, muss jedem klar sein, dass sie den demokratischen Boden verlassen hat.
Die AfD unterwandert große Betriebe
Die AfD sagt ja, sie wolle die EU in ihrer jetzigen Form abschaffen. Gleichzeitig kandidiert sie für das Parlament dieser EU. Will da jemand die Demokratie von innen zerstören? Sehen Sie Parallelen zu einem Beispiel aus unserer Geschichte?
Giesler: Aber ja: Wir hatten sowas schonmal 1933, als die Gewerkschaftshäuser gestürmt wurden. In Essen gibt es im Gewerkschaftshaus einen Karl-Wolf-Saal. Er war der Bezirksleiter der Metallarbeitergewerkschaft, der am 2. Mai 1933 von der SS abgeholt wurde und im KZ gestorben ist. Ich sage auf Veranstaltungen immer: Karl Wolf – das bin ich, 90 Jahre später. Ich habe 1933 nicht erlebt und stehe dafür nicht in Verantwortung. Aber wir können heute den Fehler vermeiden, den unsere Eltern und Großeltern gemacht haben.
Kirchhoff: Ich kann mich an Gespräche mit den Großeltern erinnern, die waren durchaus reserviert gegenüber der Weimarer Republik. Ich weiß aber auch noch, wie groß ihr Schock war, als sie erkannten, was wirklich hinter dem NS-Regime stand. Sie hatten auch nicht den historischen Vergleich, aber wir haben ihn heute, wir wissen, was passieren kann. Die Sprüche, die Methoden, die Unlauterkeit – das hat nichts mit unseren Werten zu tun und ist höchst gefährlich.
Kirchhoff und Giesler: Die AfD will Betriebe unterwandern, das müssen wir verhindern
Herr Kirchhoff, merken Sie auch in Ihrem Betrieb einen Rechtsruck, eine veränderte Diskussionskultur?
Kirchhoff: In Südwestfalen sind Vorbehalte etwa gegen Flüchtlinge nicht so ausgeprägt wie in den großen Städten. Aber je größer die Unternehmen, desto mehr versucht die AfD, diese Betriebe zu unterwandern. Das ist gefährlich. Das müssen wir verhindern, so hat es früher auch angefangen.
Herr Giesler, einer Umfrage zufolge hat sich der Zuspruch junger Beschäftigter zur AfD binnen zwei Jahren verdoppelt, es gibt einen Rechtsruck an der Werkbank und in der Industrie. Dringen Sie als IG Metall, die sich klar gegen Rechtsextremismus positioniert, nicht mehr durch?
Giesler: Wir müssen feststellen, dass Gewerkschaftsmitglieder überproportional AfD wählen. Die wenigsten sind aber Nazis, sondern meist Menschen, die Angst haben vor Job- und Wohlstandsverlust. Deshalb geht es uns in der Tarifpolitik zunehmend darum, Sicherheiten in der Transformation zu schaffen. Wir müssen uns auch im Klaren sein, dass die AfD in den sozialen Medien wie TikTok hochprofessionell ist und junge Menschen anspricht. Deshalb verstärken wir als IG Metall unsere Projekte, um in den sozialen Medien und in den Betrieben für die Demokratie zu werben.
Arbeitgeber und IG Metall: Deutschland braucht Zuwanderung
Viele Menschen in Deutschland, und zwar Sympathisanten aller Parteien, sehen die gestiegene Zuwanderung skeptisch, das derzeit vielleicht umstrittenste Thema der EU. Was sagen Sie denen?
Giesler: Wir brauchen Zuwanderung, um unseren wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Wo wir Fehler machen, ist das Thema Integration. Wir müssen die Leute schneller in Arbeit und auch in unsere Kultur integrieren. Wir können es uns gar nicht leisten, diese Menschen zu parken, sonst werden wir den Arbeitskräftemangel nicht bewältigen können.
Kirchhoff: Wir haben zwei große Fehler gemacht. Wir dürfen Zuwanderer nicht so lange außerhalb des Arbeitsmarktes lassen. Es hapert etwa an der Berufsanerkennung. Ein Handwerksmeister sieht sofort, was jemand kann, auch wenn er nicht nach unseren Kammer-Standards ausgebildet wurde. Zugleich muss der Staat aufpassen, dass er die Nichtarbeit nicht zu hoch vergütet. Es darf keinen Anreiz geben, nach Deutschland zu kommen und statt zu arbeiten Sozialleistungen zu beziehen.
EU-Binnenmarkt ist nicht fertig: Die meisten E-Ladesäulen in nur drei Ländern
Die EU hat auch ein allgemeines Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzproblem bei den Menschen. Also: Warum brauchen die Deutschen Europa?
Kirchhoff: Für uns ist die EU der mit Abstand größte Markt, in NRW gehen 60 Prozent aller Exporte in EU-Länder. Die EU sichert unseren Wohlstand. Wir brauchen deshalb den europäischen Binnenmarkt. Die Menschen haben lange abgehakt, dass sie frei reisen können, fast überall mit dem Euro bezahlen können und das Telefonieren über Grenzen hinweg in Europa fast nichts mehr kostet. Aber der Binnenmarkt ist noch nicht vollendet und seine Entwicklung geht viel zu langsam voran. Im Wettbewerb der Weltregionen mit China und den USA ist Europa noch nicht gut aufgestellt.
Was fehlt denn?
Kirchhoff: Was fehlt, ist vor allem eine funktionierende Infrastruktur, etwa für Energie und Verkehr. Bei der E-Mobilität ist es so, dass 60 Prozent aller Ladepunkte der EU in Frankreich, Deutschland und den Beneluxländern stehen. Sie können aber nicht elektrisch nach Polen fahren. Wir brauchen auch viele neue Stromleitungen, die machen nicht an den Grenzen halt. Das zu koordinieren, ist die Hauptaufgabe für die EU. Da muss Brüssel mehr Tempo machen.
Giesler: Deutschland ist viel zu klein, um mit Ländern wie China und den USA konkurrieren zu können. Um auf Augenhöhe zu kommen, brauchen wir Europa. Die EU ist zudem das größte Friedensprojekt: Dass wir seit 80 Jahren in Frieden leben, ist ein Luxus, den wir in Europa vorher nicht gekannt haben. Und die EU sichert unseren Wohlstand als Industrieland.
Aber?
Giesler: Aber wir brauchen auch innerhalb Europas vergleichbare Bedingungen. Ein Beschäftigter versteht es nicht, wenn durch EU-Subventionen Arbeitsplätze in Osteuropa aufgebaut und gleichzeitig dadurch bei uns abgebaut werden. Da verstehe ich jeden, der sagt, so kann Europa nicht funktionieren. Und wir brauchen auch vergleichbare Energiepreise und Standards für nationale Subventionen. Solange das nicht gegeben ist, macht die EU den Leuten Angst und stößt auf Ablehnung.
Unternehmer und IG Metall bei Lieferkettengesetz uneins
Kirchhoff: Europa braucht mehr Handelsabkommen. Da sind wir zuletzt nicht vorwärts gekommen. Vielleicht, weil wir zu hohe moralische Standards ansetzen. Stattdessen müssen wir uns mit überzogenen Lieferkettenregelungen für Zulieferländer beschäftigen. Wir als Kirchhoff-Gruppe setzen das um. Aber wissen Sie, was uns taiwanesische und kanadische Unternehmen sagen? „Das unterschreiben wir nicht, das geht uns zu weit.“ Die EU hat also Regeln gemacht, die unseren Handel erschweren statt vereinfachen.
Giesler: Für uns ist klar, dass wir ein Lieferkettengesetz brauchen. Das führt am Ende zu vergleichbaren Konkurrenzbedingungen. Wir wollen nachhaltige Wertschöpfungsketten, insbesondere was Arbeitsbedingungen und Sicherheitsstandards in den Herkunftsländern angeht. Da sollten wir als Europa schon eine Vorreiterrolle spielen, und dann halt nicht beim Taiwanesen bestellen, der das nicht unterschreiben will.
Das ist die alte Frage, ob wir Vorreiter sein sollten, weil wir es können, oder wir sollten es nicht sein, weil wir sonst Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Kirchhoff: Ich sage beides: Wir müssen schon Vorreiter sein, etwa was klimaschonende Produkte angeht. Die wollen wir entwickeln, aber wir wollen auch davon profitieren, indem wir sie in alle Welt verkaufen. Und wenn wir dann anderen Ländern sagen, mit Euch arbeiten wir nicht, weil Ihr noch nicht so weit seid, dann ist das nicht in unserem Interesse.
Giesler: Das führt dazu, dass diese Länder erhebliche Kostenvorteile haben. Und dass wir uns immer die billigsten Lieferländer aussuchen, führt dazu, dass wir abhängiger von globalen Wertschöpfungsketten werden, die auch zusammenbrechen können, so wie in der Corona-Pandemie, als in China alle Häfen zu waren.
Kirchhoff: Jetzt haben wir uns missverstanden. Wir bestehen auf Standards bei den Arbeitsbedingungen, bauen auch neue Lieferketten auf und reduzieren die Abhängigkeit von China. Ich meine, dass wir etwa bei kulturellen Normen nicht unsere Maßstäbe anlegen können. In so manchem Land gibt es etwa Bilder von veralteten Geschlechterrollen, die wir als falsch empfinden. Aber sollen wir deswegen mit diesen Ländern die Wirtschaftsbeziehungen wirklich abbrechen?
Giesler: Die Frage ist doch: Nutze ich das aus, um die letzte Kostenersparnis auch gegenüber dem Standort Deutschland zu kriegen. Das kann nicht sein, da sind und bleiben wir im Konflikt.
Giesler zu Jugendlichen: Dein günstiges Handy wäre ohne die EU nicht möglich
Es dürfen diesmal auch 16-Jährige wählen. Was sagen Sie den Jugendlichen, warum unsere Wirtschaft ohne die EU nicht funktioniert.
Giesler: Ich sage, dass Du heute günstig mit Deinem Handy telefonieren und Dir TikTok angucken kannst, wäre ohne die EU nicht möglich. Das liegt daran, dass wir einen Binnenmarkt haben, von dem Deutschland wirtschaftlich stark profitiert. Nur so konnten wir den Wohlstand aufbauen, der Dir das jetzt ermöglicht.
Kirchhoff: Ich weiß, dass die jungen Menschen besonders die Reisefreiheit genießen. Es gilt, diese Errungenschaften zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Das muss man den jungen Leuten sagen, weil sie es für selbstverständlich halten. Das ist es aber nicht.
Verbrenner-Aus: Kirchhoff für Technologieoffenheit, Giesler für Technologieklarheit
Europas größtes Vorhaben in Sachen Klimaschutz, der Green Deal, ist umstritten. Bei Ihnen auch?
Kirchhoff: Das Ziel ist unstrittig, bis 2050 klimaneutral zu werden. Wir setzen uns aber auseinander über den Weg dahin. Er muss technologieoffen sein. Und vielleicht müssen wir die Geschwindigkeit anpassen und Zwischenziele verschieben. Wir sollten sowohl die Menschen als auch unsere Wirtschaft nicht überfordern. Deshalb müssen wir zum Beispiel auch Lösungen für die Verbrennerautos finden. Bis wir komplett elektrisch fahren, wird es noch Jahrzehnte dauern. Für das Klima wäre das Beste, wenn diese Autos CO₂-freien Kraftstoff tanken können.
Giesler: Den Green Deal brauchen wir, weil wir es uns nicht leisten können, die Erde weiter zu zerstören. Ich verstehe Ihren Wunsch nach Technologieoffenheit, Herr Kirchhoff, aber wir werden es nicht schaffen, Infrastrukturen für E-Fuels, Wasserstoff und Strom für den Individualverkehr gleichzeitig aufzubauen. Deshalb brauchen wir eine Technologieklarheit, um weiterzukommen, ich halte den Weg zur E-Mobilität im Individualverkehr für richtig.
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