Essen. Ohne Green Deal kein grüner Stahl aus Duisburg. Was Thyssenkrupp-Azubi Mustafa sorgt. Und was die Parteien zur Europawahl versprechen.

Am 9. Juni wird das neue Europäische Parlament gewählt. Allein in NRW sind rund 13,8 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen, mit der der Kurs für die kommenden fünf Jahre in der EU mitbestimmt wird. Doch wo liegen die Unterschiede bei den Parteien? Und wie kann es der EU mithelfen, drängende Probleme vor Ort im Ruhrgebiet zu lösen? Am Beispiel Thyssenkrupp lässt sich beschreiben, was die EU mit dem wirtschaftlichen Wandel zu tun hat.

Sein Großvater hat schon bei Thyssenkrupp in Bochum gearbeitet, er selbst macht im Werk an der Castroper Straße eine Ausbildung zum Industriemechaniker: Mustafa-Can Malkoc hatte viel Gutes gehört über Thyssenkrupp, dort kümmere man sich um die Beschäftigten, gehe gut mit ihnen um. Und: „Stahl wird immer gebraucht“, sagt der 17-Jährige. Doch jetzt macht er sich Sorgen: „Ich bin immer noch zufrieden, die Ausbildung macht Spaß. Aber so langsam fragt man sich: Was passiert da gerade?“

Was passiert, ist die nächste Stahlkrise: Chinesischer Billigstahl überschwemmt Europa, hiesige Produzenten kochen und verkaufen weniger Stahl. Thyssenkrupp senkt deswegen seine Kapazität um rund ein Viertel und hat angekündigt, entsprechend Arbeitsplätze abzubauen.

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„Jetzt habe ich schon Zukunftsängste, habe Sorge vor Standortschließungen und dass wir vorher gar nicht gefragt werden. Unser Werk an der Castroper ist ein eher kleines, man macht sich natürlich Sorgen, dass es kleinere Standorte zuerst treffen könnte.“

Thyssenkrupp-Azubi: Die Zeit für den Umstieg auf grünen Stahl ist sehr kurz

Dass die Zukunft auch davon abhängt, ob in Deutschland die Stahlproduktion in den kommen zehn, 15 Jahren von Kohle auf klimafreundlichen Wasserstoff umgestellt werden kann, weiß er. „Ich bin dafür“, sagt Mustafa-Can, schickt aber skeptisch hinterher: „Der Zeitraum ist für eine so gewaltige Umstellung sehr kurz. Deshalb weiß ich nicht, ob das zu schaffen ist und ob es am Ende gut oder schlecht für unsere Arbeitsplätze ist.“ Mit 17 kann er bereits wählen gehen und will das auch tun. Wen, weiß er noch nicht: „Ich muss mich erst noch genauer informieren.“

Thyssenkrupp-Azubi Mustafa-Can Malkoc zog vergangene Woche mit vor die Essener Konzernzentrale. Er sorgt sich um seine Zukunft seines Bochumer Werks von Thyssenkrupp Steel.
Thyssenkrupp-Azubi Mustafa-Can Malkoc zog vergangene Woche mit vor die Essener Konzernzentrale. Er sorgt sich um seine Zukunft seines Bochumer Werks von Thyssenkrupp Steel. © Ulf Meinke | Ulf Meinke

Mit dieser Skepsis ist der 17-Jährige nicht allein. In einer Umfrage der IGBCE äußerten vier von fünf Industriebeschäftigten Bedenken zum Green Deal der EU. Das Ziel, erster klimaneutraler Kontinent zu werden, halten demnach 79 Prozent) für „eher“ oder „sehr unrealistisch“. 61 Prozent fordert zudem, die EU müsse den Mitgliedstaaten mehr Spielraum für staatliche Investitionen in den Umbau der Industrie ermöglichen.

Was hat die EU damit zu tun?

Ob die grüne Transformation unserer Industrie im Ruhrgebiet gelingt, hat eine Menge mit der EU-Politik zu tun. Der von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerufene „Green Deal“ will genau das: eine Abkehr von fossilen Brennstoffen, auch in der Industrie.

Hier ist der Weg zur Klimaneutralität freilich am weitesten und steinigsten. Die Stahlindustrie setzt auf sogenannte Direktreduktionsanlagen (DRI), die nicht mit Kohle, sondern zunächst mit Erdgas und später mit grünem Wasserstoff laufen sollen. Dabei gibt es zwei große Probleme: Die Anlagen sind sehr teuer und nicht ohne Staatshilfen finanzierbar. Diese Subventionen muss die EU erlauben.

Zweitens muss Wasserstoff in großen Mengen beschafft sowie die Infrastruktur für Transport und Speicherung erst noch aufgebaut werden. Wie beim Stromnetz wird dafür entscheidend sein, dass nicht nur ein deutsches Wasserstoffnetz entsteht, sondern ein europäisches, um den Energieträger der Zukunft für alle verfügbar und über die Grenzen lieferbar zu machen.

Eine wichtige Voraussetzung dafür hat die EU im vergangenen November geschaffen: mit der Richtlinie für den gemeinsamen europäischen Gas- und Wasserstoffmarkt. Sie schafft Rechtssicherheit für Bau und Betrieb von Netzen, Speichern und Import-Terminals. Geregelt wird etwa, dass die örtlichen Verteilnetzbetreiber ihre Gas- auch als Wasserstoffnetze umrüsten und betreiben können. Das versetzt die Stadtwerke überhaupt erst in die Lage, jetzt konkret zu planen. Wie jede Richtlinie wird auch diese aber erst wertvoll, wenn es in die Umsetzung geht.

Was wollen die deutschen Parteien in Europa ändern?

Bei den größeren deutschen Parteien ist der Eifer, die grüne Industrie in Europa voranzutreiben, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die größten Übereinstimmungen zur grünen Industrie gibt es zwischen der Union, SPD und Grünen, sie sind alle dafür. Auch das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) ist für europäische Hilfen, die FDP sieht im „Green Deal“ eine Bevormundung der Unternehmen, die AfD lehnt ihn grundsätzlich ab. Im Einzelnen:

CDU/CSU: Die Union will alle Sektoren darin „unterstützen, ihre Produktionsweisen klimafreundlich umzurüsten“. Beim Wasserstoff brauche es „einen zügigen Hochlauf der europäischen und internationalen Produktion und eine funktionierende Transportinfrastruktur mit einem grenzüberschreitenden Pipelinenetz“. Die Union steht „für eine ambitionierte und zügige Umsetzung der EU-Wasserstoffstrategie“.

SPD: Die Sozialdemokraten wollen „eine aktive Industriepolitik, die massiv in klimaneutrale Zukunftstechnologien, in eine sichere Energieversorgung, Infrastruktur und Innovation investiert“. Der Green Deal müsse zu einem grünen Industrieplan weiterentwickelt werden. „Wir müssen gemeinsam verstärkt in den Ausbau von erneuerbaren Energien, grenzüberschreitenden Wasserstoffpipelines und Stromleitungen sowie in Elektrolyseure und Hafeninfrastruktur investieren“ fordert die SPD.

Grüne: Die Grünen sind entschieden für die Umsetzung des europäischen Green Deal. Sie wollen insbesondere „grünen Wasserstoff überall nutzbar machen, damit auch energieintensive Industrien wie die Stahlproduktion in Europa Zukunft haben.“ Die Grünen treten für eine „europäische Investitionspolitik ein, die dafür sorgt, dass sich Europa im Rennen um den ersten klimaneutralen Wirtschaftsstandort der Welt durchsetzt“.

Die AfD lehnt Europas Green Deal wie auch die EU als solche in ihrer jetzigen Form grundsätzlich ab und leugnet in ihrem Wahlprogramm den vom Menschen gemachten oder gar verstärkten Klimawandel. Stattdessen betont sie, wie wichtig CO₂ für die Pflanzen sei und erklärt: „Fossile Energieträger waren und sind die Grundlage unseres Wohlstands.“ Eine grüne Transformation wäre demnach überflüssig.

FDP: Die Liberalen sprechen sich für Europas Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden, aus, sind aber Subventionen und Vorgaben aus Brüssel gegenüber skeptisch. Im Wahlprogramm nennt die FDP der die Umsetzung des „Green Deals“ ein „falsches Instrument“ auf dem Weg zur Klimaneutralität. Und betont, der freie Markt könne das besser allein: „Es ist nicht Aufgabe der EU, Unternehmen durch Detailsteuerung zu bevormunden.“

BSW: Das Bündnis Sarah Wagenknecht spricht sich grundsätzlich für eine massive Ausweitung staatlicher Subventionen und die Unterstützung der Wirtschaft und ihrer Arbeitsplätze aus. Das BSW ist für den „Aufbau einer europäischen Wasserstoffwirtschaft als Grundlage für die Industrieproduktion und die Arbeitsplätze der Zukunft“.

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