Siegen. Eltern stellen heute oft höhere Ansprüche an sich als früher. Das schafft Druck. Eine Siegener Expertin erläutert, wie sich damit umgehen lässt.
Fördern, fordern, beschützen und immer wissen, was das richtige ist: Heutige Eltern fühlen sich in ihrer Rolle oft stärker unter Druck als frühere Generationen. Woran das liegt und wie sich damit umgehen lässt, erläutert Susanne Wüst-Dahlhausen, Leiterin des Familienbüros der Stadt Siegen, im Gespräch mit Florian Adam.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
Warum stehen viele Eltern heute so unter Spannung?
Einer der Gründe ist sicherlich die unglaubliche Informationsfülle über das Internet und die Medien allgemein. Der Zugang zu Fachthemen ist viel unkomplizierter als früher. Eltern lesen sich in Themen der Pädagogik, Medizin und vieles mehr ein und wollen dann, besonders in der Kindererziehung, alles richtig machen. Der Druck wird dann für manche enorm hoch.
Siegen: Eltern unter Druck – oft ist ein unrealistischer Anspruch an sich selbst der Grund
Wenn das passiert: Wie sollten Mütter und Väter damit umgehen?
Man muss sich klar machen: Es ist ein unrealistischer Anspruch, den man da an sich stellt. Hinzu kommt aber noch, dass bei vielen Eltern möglicherweise das Vertrauen in die Resilienz ihrer Kinder – also deren Fähigkeit, mit auch schwierigen Situationen umzugehen – nicht mehr so ausgeprägt ist. Ich muss als Elternteil gar nicht alle Entscheidungen für mein Kind treffen, denn das Kind ist ja auch ein eigenständiger Mensch, mit eigenen Wünschen, Vorstellungen und Zielen. Die Eltern-Aufgabe ist es vor allem, dem Kind gute Grundlagen mitzugeben. Dies gelingt vor allem durch eine liebevolle, fördernde und gute Beziehung und ein Umfeld, in dem Vieles möglich ist, also viele Optionen, sich auszuprobieren
+++ Mehr zum Thema:Siegen: Aufholen nach Corona – Kinder und Jugendliche stärken+++
Optionen, aus denen das Kind – innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich – für sich wählen kann?
Ja. Problematisch kann es werden, wenn Eltern ihre eigenen Vorstellungen zum Maßstab machen, etwa: Das Kind soll mal studieren und viel Geld verdienen. Vielleicht möchte das Kind das aber vom Typ her gar nicht. Eltern müssen sich von dem Druck befreien, von der Idee „Ich muss wissen, was allein wichtig und richtig für ein glückliches Leben ist.“ Sie können das nicht einfach für das Kind entscheiden.
Siegen: Elternfragen an das Familienbüro haben sich in den letzten 20 Jahren verändert
Wenn ich an meine Kindheit in den 80ern zurückdenke – also, ich habe da den Eindruck: Damals lief das alles deutlich entspannter.
Als wir vor 20 Jahren mit der Familien-Service-Stelle der Stadt angefangen haben...
… da stellten Eltern noch andere Fragen. Da ging es auch schon um Betreuung – aber eher darum, ob das Kind einen Platz bekommt und wo die Kita liegt. Seitdem wurden es immer mehr inhaltliche Fragen, etwa: Welche Einrichtung bietet Sprachkurse oder bestimmte Förderprogramme an? Die Ansprüche sind heute höher.
Siegen: Mütter und Väter unter Druck – der Austausch mit anderen Eltern kann helfen
Noch eine Sache, die früher anders war: Zur Schule, zu Freunden, in den Sportverein gingen Kinder oft zu Fuß. Mittlerweile gibt es den Begriff der „Elterntaxis“. Warum wird der Nachwuchs so oft chauffiert?
Eltern haben Angst um ihre Kinder, denn Gefährdungen sind heute viel präsenter. Kinderschutz ist als Thema stärker im Bewusstsein. Außerdem lässt sich so Zeit sparen. Und die Tendenz, weniger zu Fuß zu gehen, betrifft die ganze Gesellschaft. Da haben sich die Gewohnheiten verändert. Manche Familien haben auch ein Terminpensum, das sich ohne Auto gar nicht bewältigen lässt. Aber man sollte natürlich die Selbstständigkeit der Kinder nicht aus dem Blick verlieren.
+++ Lesen Sie hier:Siegen: In welchen Stadtteile Kinder weniger Chancen haben+++
Wenn Eltern in einer überzogenen Anspruchshaltung an sich selbst feststecken – wie kommen sie aus dieser Falle wieder heraus?
Das gelingt nur, wenn man sich gut und intensiv mit anderen Eltern austauscht – in Elterngruppen, Elterncafés, Sportvereinen oder im Mütterzentrum zum Beispiel. Eltern können sich dort gegenseitig erleben. Wichtig ist dabei ein ehrlicher Umgang, bei dem man auch Schwächen eingesteht.
Familienbüro Siegen: Willkommensbesuche ebnen Weg für ein gutes Miteinander
Schwächen eingestehen ist in unserer Gesellschaft keine ganz leichte Übung. Gerade in den Sozialen Medien sieht man überwiegend Leute, die scheinbar alles perfekt hinkriegen, Familie und Beruf managen, Sport treiben, toll aussehen, sich selbst optimieren und dabei noch wahnsinnig gut drauf sind.
Darum müssen Menschen, auch und gerade Eltern, einander im tatsächlichen Alltag erleben, in wirklichen Begegnungen – und nicht nur in dieser rosaroten Instagram-Welt. Dafür muss es Räume geben, auf die wir beispielsweise in den „Frühen Hilfen“ hinweisen.
Familienbüro Siegen
Das Familienbüro der Stadt Siegen sitzt im Rathaus Weidenau, Weidenauer Straße 211 - 213 und 215, zu erreichen unter 0271/404-22 34.
Es informiert und berät nicht nur zu Themen, die das unmittelbare Miteinander von Eltern und Kindern betreffen, sondern auch zu Aspekten wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten für Familien, Fragen rund um die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger oder familienfreundliche Maßnahmen im Betrieb.
Als Familienbüro sind sie für Eltern eine Anlaufstelle. Wie kommt der Kontakt zustande?
Zugang bekommen wir, sofern die Familien das wünschen, über die Willkommensbesuche. Die bieten wir allen Eltern mit neugeborenen Kindern an, egal ob sie schon länger in Siegen wohnen oder gerade erst hergezogen sind. 85 Prozent der Familien möchten diese Besuche gerne haben. Dabei kommen viele Themen zur Sprache. Natürlich geht es um Betreuung und das diesbezügliche Angebot in Siegen, aber auch um Dinge wie den familiären Rückhalt: Gibt es eine Oma oder einen Opa? Wenn nicht, können wir beispielsweise auf Projekte wie die Zeitpaten hinweisen, auf die Babysitterkartei, auf unser Netzwerk „Frühe Hilfen“. Wir kennen die Einrichtungen.
Familienbüro Siegen: Anlaufstelle für Eltern und Kinder in ganz vielen Fragen
Haben viele Eltern nicht immer noch Hemmungen, sich mit Fragen an das Jugendamt zu wenden? In vielen Köpfen grassiert doch sicher noch diese Horror-Vorstellung: Hat das Jugendamt einen erst einmal im Blick, ist das Kind so gut wie weg.
Das Image haftet dem Jugendamt natürlich nach wie vor an und Darstellungen in den Medien tragen häufig auch noch heute dazu bei, dieses Bild zu manifestieren. Jugendamt ist aber so viel mehr und in erster Linie eine Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und Familien, die unterstützen möchte. Mit den Willkommensbesuchen aber auch mit anderen Angeboten des Jugendamtes wie zum Beispiel den offenen Kinder – und Jugendeinrichtungen, Familienzentren oder Beratungsstellen machen wir gute Erfahrungen. Väter und Mütter oder auch Kinder und Jugendliche, die an diesen Stellen mit dem Jugendamt Erfahrungen machen konnten, erinnern sich daran oft als gutes Erlebnis, und wenn sie dann irgendwann ein Anliegen haben, melden sie sich bei den Mitarbeiterinnen, die sie bereits kennengelernt haben. Vielleicht möchten sie in einem bestimmten oder mehreren Punkten Hilfe oder Unterstützung, vielleicht einfach nur einen Tipp am Telefon, einen Blick von außen. Auch dafür sind wir da.
+++ Auch interessant: Siegen: Kinder- und Jugendhilfezentrum für den Lindenberg+++
Wenn Sie Eltern einen einzigen Rat geben müssten: Welcher wäre das?
Behaltet Euer Kind gut im Blick – und zwar genau dieses einzelne Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen, denn die variieren nun einmal von Mensch zu Mensch. Auch innerhalb einer Familie: Sie können drei Kinder haben, und alle können völlig anders sein und etwas Anderes brauchen. Das ist jedoch kein Rat nur für Familien, sondern für alle, die mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt sind.
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++