Siegen. Die Beratungsstelle gegen Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch berichtet von aktuellen Fällen. Einige Kinder hätten nicht mal ein Bett.

Zu deutlich mehr Familien als sonst hatte das Team der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Jahr 2021 Kontakt. Mit 252 Fällen ist die Zahl gegenüber dem Vorjahr (195 Fälle) um mehr als ein Viertel gestiegen und liegt deutlich über dem Niveau der Jahre vor Corona. Das geht aus dem Jahresbericht der an der DRK-Kinderklinik angesiedelten Einrichtung hervor.

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„Der Alltag der Familien hat sich in der Pandemie stark verändert“, sagt Antje Maaß-Quast, seit rund zehn Jahren in der Ärztlichen Beratungsstelle (ÄB) tätig. Kontakte und Freizeitaktivitäten außer Haus seien weggefallen, viele Menschen litten unter Jobverlust oder der Angst vor einem solchen, „Kitas und Schulen haben Verantwortung und Struktur weitgehend abgegeben und zur Aufgabe der Eltern gemacht: Das erhöht den Druck in den Familien“, betont die Expertin. Vielfach hätten sich so „elterliche Hilflosigkeit und kindliche Verhaltensauffälligkeiten wechselseitig verstärkt“. Es geht bei dieser Einschätzung nicht darum, irgendetwas zu entschuldigen – sondern darum, „das Familiensystem in den Blick zu nehmen“, wie Antje Maaß-Quast erläutert. „Denn alle Eltern lieben ihre Kinder. Auch wenn ihnen manchmal die Hand ausrutscht.“

Siegen: Säugling stirbt nach Misshandlungen

Natürlich „gab es viele Fälle, die uns sehr betroffen gemacht haben“, sagt Antje Maaß-Quast. Ein Kind im Säuglingsalter sei in Folge von Misshandlungen gestorben, „das hat uns sehr beschäftigt“. Aber das Leid hat viele Gesichter. Manche Kinder hätten nicht einmal ein eigenes Bett, andere fänden im Kühlschrank nichts als Spirituosen vor – und wenn sie dann darauf hinweisen, dass sie Hunger haben, gebe es Schläge.

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Die Ärztliche Beratungsstelle wird von einem Verein getragen. Finanziert wird die Arbeit mit Mitteln des Kreises Siegen-Wittgenstein, der Stadt Siegen, des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe und über Spenden.

Die ÄB arbeitet eng mit dem interdisziplinären Team der Kinderschutzgruppe der DRK-Kinderklinik zusammen, außerdem mit Einrichtungen der Kinderbetreuung, Schulen, Jugendämtern, familienentlastenden Diensten und der Polizei.

143 Beratungsanfragen bezogen sich im Jahr 2021 auf Mädchen, 109 auf Jungen. Lediglich bei den unter Drei-Jährigen sind die Jungen deutlich in der Mehrheit.

Siegen: Mädchen häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen

72 Mädchen, also rund jedes zweite, kamen unter anderem wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch. Bei den Jungen waren es 27. Hier ist körperliche Misshandlung mit 62 Fällen (57 Prozent) der häufigste Grund für den Kontakt zur ÄB. Zu beachten ist, dass die Kinder oft nicht nur unter einem einzigen Aspekt zu leiden haben. „Die Bereiche gehen ineinander über, das ist nicht immer scharf zu trennen“, erklärt Mitarbeiterin Marina Beer. Sexueller Missbrauch geht oft mit physischer Gewalt einher, körperliche Misshandlung kann parallel zu Vernachlässigung auftreten.

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25,3 Prozent der Kinder seien wegen des Verdachts auf emotionale Misshandlung gekommen. Hier hätte sich die Zahl „fast verdoppelt“, wie Antje Maaß-Quast sagt. Darunter sei eine „kontinuierliche Abwertung des Kindes“ im Umgang miteinander zu verstehen, ebenso aber das Miterleben häuslicher Gewalt, das massive Schäden verursachen kann, auch wenn das Kind selbst nicht Ziel der Übergriffe sei.

Marina Beer und Antje Maaß-Quast (von links) von der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen stellen den Jahresbericht für 2021 vor.
Marina Beer und Antje Maaß-Quast (von links) von der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen stellen den Jahresbericht für 2021 vor. © WP | Florian Adam

Ärztliche Beratungsstelle Siegen: Zeichen von Misshandlung und Missbrauch erkennen

Bis zu 7 Mal würden manche Kinder und Jugendliche versuchen, sich anderen mitzuteilen, „bis Erwachsene Aufmerksamkeit zeigen oder zuhören“, sagt Antje Maaß-Quast. Die Ärztliche Beratungsstelle, deren Angebot sich an alle Menschen aus dem Lebensumfeld von Kindern richtet, ist deshalb auch in der Aus- und Weiterbildung etwa von Pflegekräften oder pädagogischen Fachkräften engagiert.

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Menschen sollen dafür sensibilisiert werden, Anzeichen für Misshandlung und Missbrauch zu erkennen, selbst wenn diese nicht offensichtlich sind – beispielsweise anhand von Verhaltensänderungen. Und sie sollen ein Gespür dafür entwickeln, wie sie sich als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner anbieten können. „Kinder teilen sich nicht mit, wenn sie den Eindruck haben, das Gegenüber ist überfordert“, beschreibt Antje Maaß-Quast das Problem. „Unsere Haltung ist deshalb: ,Ich interessiere mich für Dich und halte aus, was Du mir mitteilst’.“

Siegen: Eltern bei Kindesmisshandlung nicht vorverurteilen

75 Prozent der Fälle wurden 2021 über „Fremdmelder“ an die ÄB vermittelt – meistens über das Jugendamt. Bei den 25 Prozent „Selbstmeldern“ sind es weit überwiegend Mütter, die den Kontakt aufnehmen, wobei auch hier eine Empfehlung von außen vorangegangen sein kann. Generell geschehe es nur selten, dass sich Eltern gegen das Beratungsangebot sperren, sagt Antje Maaß-Quast. „Wenn wir den Eltern signalisieren, dass wir in Sorge um ihr Kind sind, können wir sie gut abholen.“ Außerdem fühle sich das Team dem Grundsatz „Hilfe statt Strafe“ verpflichtet: „Wir vorverurteilen nicht.“

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