Siegen. Ihre Behandlung stellt hohe Ansprüche, doch im Gesundheitssystem haben Erwachsene mit schwerer Behinderung kaum Anlaufstellen. In Siegen schon.

Mit 18 ist Schluss. Die Probleme von Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen werden dann zwar nicht weniger, doch ab diesem Alter sind die sozialpädiatrischen Zentren nicht mehr für sie zuständig. Anlaufstellen, die auf diese Patientinnen und Patienten spezialisiert sind, gab es lange nicht. Das Klinikum Siegen bietet nun eine solche: Seit einigen Wochen gibt es hier eines der noch wenigen Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB). Am Dienstag (25. April) wird die Eröffnung offiziell gefeiert.

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Es geht um „Erwachsene mit intellektueller Entwicklungsstörung oder schwerer mehrfacher Behinderung“, wie auf der Homepage erläutert ist. Die Betroffenen stoßen im bisherigen ambulanten System schnell an teils unüberwindbare Grenzen, wie Dr. Heiko Ullrich, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit, dem die neue Einrichtung angeschlossen ist, erklärt: „Das sind oft Menschen, die in normalen Praxen nicht versorgt werden können.“ Es gehe dabei einerseits um mangelnde Barrierefreiheit, weil etwa Türen nicht breit genug für Rollstühle oder Toiletten nicht behindertengerecht seien. Andererseits sind Abläufe aufwendiger. „Wenn sie jemanden mit einer schweren Behinderung untersuchen wollen, braucht das Zeit“, sagt Heiko Ullrich.

Dr. Heiko Ullrich, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit am Klinikum Siegen. Seiner Abteilung ist das MZEB angeschlossen.
Dr. Heiko Ullrich, Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit am Klinikum Siegen. Seiner Abteilung ist das MZEB angeschlossen. © Klinikum Siegen

Siegen: Medizinisches Zentrum für Erwachsene mit Behinderung neu eröffnet

Wegen der eingeschränkten Möglichkeiten der Kooperation dieser Patientinnen und Patienten dauerten selbst Standardvorgänge wie etwa Blutabnahmen länger als üblich. Dazu kommen herausfordernde Verhaltensweisen, die auf die Behinderung der Patienten zurückzuführen sind. „Oft scheitert es schon daran, dass keine einfache Sprache benutzt wird“, merkt Stina Eich, Heilerziehungspflegerin im MZEB, an. „Einfache Sprache“ soll auch für Menschen mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten gut verständlich sein. Der Fachbegriff täuscht darüber hinweg, dass viele nicht Betroffene sich damit schwer tun, weil eine komplexere Ausdrucksweise die Norm ist.

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In diesen Schilderungen liegt kein Vorwurf an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, wie das Team im Gespräch deutlich macht. Vielmehr liege das Problem im System. „Die Versorgung von Menschen mit Behinderung war in Deutschland lange schlecht, weil diese Patienten keine Lobby haben – gerade Menschen mit geistiger Behinderung nicht“, sagt Heiko Ullrich.

Das Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) ist eine im weiten Umkreis einmalige Anlaufstelle für Patienten, deren Betreuung in niedergelassenen Praxen oft an Grenzen stößt. Das Team (von links): Ina Schwanzer, Stina Eich, Lisa Bommer, Dennis Berkenhoff, Kirsten Schöler und Annegret König-Bahrendt
Das Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) ist eine im weiten Umkreis einmalige Anlaufstelle für Patienten, deren Betreuung in niedergelassenen Praxen oft an Grenzen stößt. Das Team (von links): Ina Schwanzer, Stina Eich, Lisa Bommer, Dennis Berkenhoff, Kirsten Schöler und Annegret König-Bahrendt © Klinikum Siegen

Siegen: Erwachsene mit schwerer Behinderung im Gesundheitssystem oft benachteiligt

Erst in den 1970er Jahren sei ein Gesetz verabschiedet worden, das der Gründung sozialpädiatrischer Zentren (SPZs) den Weg eröffnete. Ein ebensolches gibt es zum Beispiel an der DRK-Kinderklinik in Siegen. Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden hier umfassend betreut, außer den ärztlichen Leistungen gibt es dort unter anderem Logopädie, Physio-, Moto- und Psychotherapie. „Die Patienten fallen aber aus dieser Versorgung raus, wenn sie volljährig werden“, erklärt Heiko Ullrich. Ein Erwachsenen-Pendant zu den SPZs war lange nicht vorgesehen. „Die Versorgungslücke hat uns Sorgen und Kummer gemacht. Wir sind froh, dass wir ein MZEB haben.“

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Vorausgegangen seien der Eröffnung „sieben Jahre anstrengende und nervenaufreibende Arbeit“, bis 2022 die Genehmigung erteilt wurde. Möglich sei der Betrieb eines MZEBs erst seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2015. 80 soll es insgesamt in Deutschland geben, also eines pro eine Million Einwohnerinnen und Einwohner. Diese Zahl sei noch nicht erreicht – auch deshalb freut sich das Team, dass Siegen bereits am Start ist. Standardkonzepte gibt es nicht. „Jedes MZEB wird anders sein, abhängig von den Menschen, die dort arbeiten“, betont der Chefarzt. Der Siegener Standort habe einen neurologischen und psychiatrischen Schwerpunkt. „Wir gucken uns den Patienten aber nicht nur aus ärztlicher Sicht an, sondern beispielsweise auch heilpädagogisch. Und wir schauen, welche Unterstützung die Familie braucht.“

Klinikum Siegen: 300 Patienten im Quartal am Zentrum für Erwachsene mit Behinderung

Ein wichtiger Aspekt sind koordinatorische Leistungen. Auf Grundlage der ärztlichen Befunde erfolgt auch Beratung zu Behandlungen wie Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie, außerdem zu Möglichkeiten der Unterstützung im Alltag für Patientinnen, Patienten und deren Angehörige. Das Team ist interdisziplinär zusammengesetzt, die Räume sind großzügig geschnitten, die Zeitfenster pro Termin liegen im Schnitt bei 60 Minuten. Sollte Bedarf für Untersuchungen in anderen Fachrichtungen festgestellt werden, hat das MZEB das Klinikum Siegen im Rücken. Darüber hinaus strebt das Team Kooperationen mit weiteren Akteurinnen und Akteuren in der Region an, etwa Zahnärztinnen und Zahnärzten oder gynäkologischen Praxen.

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300 Patientinnen und Patienten soll das MZEB in Zukunft pro Quartal versorgen. „Wir haben viele Anfragen und vergeben viele Termine“, schildert die ärztliche Leiterin Lisa Bommer, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, die Erfahrungen der ersten Wochen. Das Einzugsgebiet ist groß. Der Bedarf ist es auch.

Siegen: Eltern von Menschen mit schwerer Behinderung kümmern sich oft ein Leben lang

Das Team des Medizinischen Behandlungszentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) nimmt nicht nur die Patientinnen und Patientinnen in den Blick, sondern auch die Menschen, die sich im Alltag um sie kümmern. Meist sind das die Eltern. Doch während diese in Familien mit gesunden Kinder in der Regel weitgehend loslassen und sich zurücknehmen können, wenn der Nachwuchs erwachsen wird, „werden Eltern von Kindern mit Behinderung das nicht erleben“, sagt Annegret König-Bahrendt, Nervenärztin am MZEB. „Sie bleiben Vater und Mutter in allen Fragen des Alltags“, oft ein Leben lang. Auch wenn sie diese Rolle aus Liebe erfüllten, könne das sehr belastend sein; manchmal sogar gerade deswegen. Denn zu den körperlichen und psychischen Anstrengungen komme dann die Angst: Wenn das eigene Alter, eine Krankheit oder gar der eigene Tod die weitere Versorgung des Sohnes oder der Tochter unmöglich machen: Was wird dann aus dem Kind, das doch auf Hilfe und Zuwendung so unerlässlich angewiesen ist?

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Vielen Eltern falle es trotz aller Mühsal schwer, Verantwortung abzugeben, sagt Annegret König-Bahrendt – die emotionale Bindung und das Pflichtgefühl stehen dem entgegen. Das eigene, wenn auch erwachsene Kind beispielsweise in eine Wohneinrichtung einziehen zu lassen, „ist bei Eltern oft mit einem schlechten Gewissen verbunden“, bestätigt Heilerziehungspflegerin Stina Eich. Viele würde der Gedanke quälen, dass sie ihr Kind „einfach weggeben“. Darum gehe es aber gar nicht, betont die Expertin. Auch Menschen mit schwerer Behinderung hätten meist das Bedürfnis nach einem Abnabelungsprozess und nach Selbstständigkeit, womit ein Auszug von Zuhause ein angemessener Schritt sein kann. Je älter die Betroffenen allerdings seien, um so schwieriger könne es werden – wenn das beispielsweise erst mit 60 Jahren geschieht, weil die Eltern sich bis zu ihrem 80. Lebensjahr gekümmert haben.

Siegen: MZEB bietet auch Angehörigen von Erwachsenen mit Behinderung Entlastung

„Wir bekommen oft die Rückmeldung, dass die Eltern dankbar sind, dass man ihnen zuhört und sagt, dass es Lösungen gibt“, ergänzt Stina Eich. Viele Familien hätten die Erfahrung machen müssen, dass das innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems oft nicht geschehe – weil in Praxen die Zeit oder die interdisziplinäre Perspektive fehlten. Mehrfach behinderte Erwachsene hätten zu lang keinen Anlaufpunkt gehabt, der ihren speziellen Anforderungen Rechnung trägt. Viele Eltern haben deshalb kräftezehrende Odysseen hinter sich auf der Suche nach Hilfe.

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Das MZEB, Amalienstraße 10 - 12 (direkt neben dem Hauptgebäude des Klinikums Siegen an der Weidenauer Straße) darf „Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung oder mehrfacher körperlicher Behinderung behandeln“, sofern der Behinderungsgrad bei mindestens 70 Prozent liegt oder bestimmte Diagnosen gegeben sind. Nähere Informationen gibt es im Internet auf klinikum-siegen.de/medizinisches-zentrum-fuer-erwachsene-mit-behinderung oder unter auch telefonisch unter der Nummer 0271/705-98 01.

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