Siegen. „2022 ist es völlig explodiert“, sagt Rettungsdienstchef Matthias Ebertz: Seine Leute fahren immer mehr Leute, die keine Notfälle sind. Nicht gut

Immer mehr Menschen reagieren auf die fortschreitende Verknappung im Gesundheitswesen: Es gibt immer weniger Ärzte, Fachärzte; immer weniger medizinisches Wissen. Also wählen immer mehr Menschen den Notruf, auch wenn objektiv kein Notfall vorliegt. Denn der Rettungsdienst muss kommen. Darunter leidet zuallererst der Rettungsdienst – aber nicht nur: Insgesamt sind die Systeme überlastet, Ressourcen reichen nicht aus, um bisherige Angebote aufrecht zu erhalten. „Die Situation nötigt uns dazu, uns mit dem Problem zu befassen“, sagt Matthias Ebertz, Leiter von Feuerwehr und Rettungsdienst. „2022 ist es völlig explodiert.“

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Rettungsdienste von Flensburg bis Garmisch würden über dieses Problem klagen: Vollkommene Aus- und Überlastung wegen Lappalien-Einsätzen. Die würden ständig weiter steigen – immer öfter seien alle vier in der hauptamtlichen Wache stationierten Rettungsfahrzeuge unterwegs. Folgen: Größere Belastung für Auto und Besatzung, weniger Zeit für Vor- und Nachbereitung wie Desinfizierung, längere Anfahrzeiten – schlimm insbesondere bei wirklichen Notfällen. Wenn in Siegen alle Fahrzeuge weg sind, kommt eins von irgendwo aus dem Kreis – und reißt woanders ein Loch, erklärt Ebertz im Feuerschutz-Ausschuss. 2022 sei die Zahl um 20 Prozent gestiegen, sie steige 2023 weiter. „Das hält kein System aus. Irgendwann ist es zu viel.“

„Das sind Menschen, die nicht klarkommen mit ihrem Leben“ – System läuft über

Man habe keinen besonderen Grund für diesen Anstieg identifizieren können, sagt Ebertz: Keine Fehleinsätze, kein erhöhtes Einsatzaufkommen außerhalb Siegens, die Zahl der wirklichen Notfälle sei konstant. Außer: Missbrauch oder zumindest falscher Gebrauch, ob absichtlich oder unabsichtlich. „Wir fahren Menschen, die keine Notfälle sind. Jeden Tag und immer mehr.“ Etwa ein Drittel seien keine Notfallpatienten, „sondern Menschen, die nicht klarkommen mit ihrem Leben oder die ihr Leben nicht organisiert kriegen.“ Und denen könne man auch keine Alternative anbieten. Denn: Hausärzte seien oft nicht oder schlecht erreichbar, beim kassenärztlichen Notdienst gibt es lange Wartezeiten, ebenso bei Fachärzten, zu Spitzenzeiten auch in den Notaufnahmen. „Wer selbst in die Notaufnahme fährt, sitzt oft stundenlang herum.“ Wer mit dem RTW kommt, ist ziemlich sofort dran. „Das hat sich rumgesprochen.“ Dabei gehörten diese Menschen auch nicht ins Krankenhaus. „Auch deren System läuft jeden Tag über.“

Die vier Rettungsfahrzeuge der hauptamtlichen Wache Siegen sind zu Spitzenzeiten permanent unterwegs (Archiv).
Die vier Rettungsfahrzeuge der hauptamtlichen Wache Siegen sind zu Spitzenzeiten permanent unterwegs (Archiv). © Hendrik Schulz

Wird der Notruf gewählt, hat die Leitstelle keine Chance, abzulehnen. Sonst drohen Schadenersatzklagen wegen unterlassener Hilfeleistung.

Die Beispiele: Wenn das Geld fürs Taxi ins Krankenhaus fehlt – Alltag in Siegen

Eine 50-Jährige schneidet sich in der Küche in den Finger, ihr wird kurz schwarz vor Augen.

Ein Jugendlicher knickt beim Sport um, der Fuß schwillt an, er kann nur noch humpeln.

Ein Drogensüchtiger hat eine Entzündung am Bein, will ins Krankenhaus, hat kein Geld fürs Taxi.

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Ein Patient hat seit sechs Wochen Husten, bis er nachts um 3 Uhr feststellt, dass er jetzt mal einen Arzt bräuchte.

Eltern, Nachbarn, Freunde, Leute, die bei sowas helfen – „diese Strukturen sind so gut wie ausgestorben“, sagt Matthias Ebertz. „Es wird für alles der RTW gerufen.“ Ein Notfall ist laut Gesetz definiert als potenziell lebensbedrohlich, ein Schnitt in den Finger ist das nicht.

Die Lösungsansätze: Krankentransport ist keine Aufgabe für den Rettungsdienst

Rettungsdienst der Stadt Siegen und DRK – das Rote Kreuz übernimmt die Aufgabe im restlichen Kreisgebiet – wollen sich damit nicht abfinden, Stellschrauben drehen wo möglich, Chancen auf Verbesserung nutzen. „Vorbeugender Rettungsdienst“ nennt sich das, wie beim vorbeugenden Brandschutz: Prävention. „Wir müssen wieder vor die Lage kommen“, sagt Ebertz. „Wir werden die Menschen nicht ändern, aber wir können das System ein bisschen verbessern.“ Unter anderem:

Datenlage verbessern – Rettungsdienst, Ärzte, Krankenhäuser bekommen die Enden oft nicht zusammen, sagt Ebertz. Man wisse nicht, was mit einer Person passierte, nachdem sie in der Klinik abgeliefert wurde. Auch mit anderen Rettungsdiensten gelte es sich auszutauschen. Und: Die eigene Klientel noch gründlicher analysieren, „Hotspots“ untersuchen. „Manche Leute fahren wir drei Mal am Tag“, erzählt Ebertz, weil sie wieder und wieder betrunken auf der Straße liegen. „Die meisten kennen wir mit Namen.“ Und auch beim dritten Mal dürfen sie sie nicht liegenlassen.

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Krankentransport raus aus der Leitstelle: Aus 500 Anrufen am Tag wurden heute 1000 (nicht alle münden in Einsätzen). Die Vernetzung mit Krankenfahrdiensten und Taxi-Unternehmen müsse gebündelt werden. „Die, die anders gefahren werden, fallen dem Rettungsdienst nicht mehr zur Last.“

Gesundheitsleitstelle für Siegen? Die Lappalien vorher rausfiltern

Versorgungslücke schließen: Kurzfristig einen fünften Rettungswagen anschaffen, um das System zu entlasten. Und Leute darauf ausbilden, um das gegenseitige Abwerben von Personal mit dem DRK zu beenden. Was auch 600.000 Euro zusätzliche Personalkosten pro Jahr bedeutet.

„Gesundheitsleitstelle“ einführen: Nach Berliner Vorbild würden dort Ärzte und Sozialpädagogen ans Telefon gehen – „und was bei den Sozialpädagogen landet, braucht keinen Rettungsdienst mehr“, so Ebertz. In der Hauptstadt seien durch diese Maßnahme die Einsatzzahlen gesunken. Und ein Arzt könne auch Behandlungsvorgaben machen, während ein regulärer Disponent nicht empfehlen darf, ein paar Aspirin zu nehmen. Außerdem gibt es standardisierte, softwaregestützte Notrufabfragen, eingerichtet und überwacht von einem Arzt. Auch damit wäre ein Disponent rechtlich aus dem Schneider.

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Ersthelfer-Systeme einführen: „Da sind wir in Deutschland ganz schlecht“, sagt Ebertz. „Viel zu wenige Menschen können das“ – anders als etwa in den USA, wo Erste Hilfe regelmäßig unter anderem an Schulen geübt wird. Ein erster Ansatz: Ersthelfer registrieren sich per App und werden via Handy mit alarmiert, wenn in ihrer Nähe ein Notfall ist. So können sie wertvolle Minuten nutzen, bis der Rettungsdienst eintrifft.