Siegen-Wittgenstein. Jobcenter will nicht spionieren, ob der Fernseher zu groß ist, so der Geschäftsführer. Die Reform: ein Fortschritt. Außer bei interner Bürokratie

Der Stolperstart ist ausgeblieben: Für die Leistungsberechtigten war am 1. Januar nur die Erhöhung spürbar, sagt Christoph Sczudlik. Der neue Bürgergeld-Regelsatz wurde rechtzeitig ins System eingepflegt, „so waren wir in der Lage, die Auszahlungen automatisiert vorzunehmen“, so der Geschäftsführer des Jobcenters Kreis Siegen-Wittgenstein. Wäre das nicht gelungen, hätten sehr viele Überweisungsträger händisch ausgefüllt werden müssen. „Uns ist kein Fall bekannt, wo etwas schief gelaufen ist, soweit hat alles reibungslos funktioniert.“

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Die Reform bringt zwar noch mehr Neuerungen als den höheren Regelsatz, aber zum einen betreffe das viele Dinge, die vor Ort ohnehin bereits so gehandhabt würden und nun in Gesetz gegossen sind – zum anderen gebe es noch sechs Monate Übergangsfrist. Das Jobcenter, kündigt Sczudlik an, werde sich künftig noch stärker auf die Begleitung der Menschen konzentrieren.

Siegener Jobcenter sieht mit Bürgergeld Chance auf positiven Imagewandel

Bescheide etwa seien bisher in einer Weise verfasst worden, die eher ans Sozialgericht als Adressat denken ließen. Im Zuge des Bürgergelds soll Kommunikation transparenter, nachvollziehbar werden, damit die Menschen direkt sehen, „warum sie Geld bekommen oder nicht bekommen haben. Ohne Jura studiert zu haben“, sagt Christoph Sczudlik. Was sich bisher „Eingliederungsvereinbarung“ nannte, heißt nun „Kooperationsvereinbarung“. Darin, erklärt der Behördenleiter, drücke sich auch sprachlich eine andere Haltung, eine andere Art der Zusammenarbeit zwischen Jobcenter und Kundschaft aus. „Verstehen und Zusammenarbeiten sollen besser gelingen.“

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Das Hartz-IV-Image der Jobcenter abzuschütteln, bleibe eine Langfrist-Aufgabe, wobei nicht erst die Bürgergeld-Reform die Arbeit deutlich weiterentwickelt habe, große Reformschritte seien öffentlich nicht wahrgenommen worden. Mit dem Bürgergeld komme man hoffentlich von dem negativ behafteten Begriff weg und könne sich konzentrieren auf die begleitende Sozialarbeit, die integrative Arbeit für den Arbeitsmarkt.

Schwerpunkt der Bürgergeld-Reform auf Gesundheit und soziale Teilhabe

Es sei vor diesem Hintergrund „erschreckend“, dass Reform-Aspekte, die das System verbessern sollen, verrissen worden seien, sagt Sczudlik – es sei keineswegs Ziel der vorgesehenen aufsuchenden Sozialarbeit, die Menschen zuhause zu besuchen. Vielmehr gehe es hier um Begleitung; auch in bereits bestehenden Formaten. „Wir wollen nicht in der Wohnung spionieren, ob der Fernseher zu groß ist“, bekräftigt der Geschäftsführer. Das ist auch mit der Gesetzesänderung nicht Aufgabe des Jobcenters.

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In der Vergangenheit lag demnach der Fokus stark auf der Vermittlung in Arbeit. „Bei Langzeitarbeitslosigkeit kommt man da nicht weiter“, sagt Sczudlik, „viele Menschen brauchen eine andere Art der Unterstützung als nur eine Adresse, wo sie sich bewerben können.“ Ein Schwerpunkt werde folgerichtig mit der Reform auf Gesundheit gelegt, auch auf soziale Teilhabe. „Das wird dann auch spürbar“, ist der Jurist überzeugt. „Jetzt haben wir die Chance, ein anderes Image zu bekommen und mit guter Arbeit in der Begleitung zu überzeugen.“

Denn das Image der Sozialverwaltung ist mäßig, gerade am Jobcenter haftet das Klischee der Hartz-IV-Behörde. Christoph Sczudlik tritt dem Eindruck entgegen, sein Haus verhänge umfangreiche Sanktionen. Dass es die nach wie vor gibt, ist ein Hauptkritikpunkt vieler Sozialverbände an der Bürgergeld-Reform. „Nur 3 Prozent aller Leistungsberechtigten werden überhaupt von den Jobcentern sanktioniert“, ordnet der Geschäftsführer ein. Und zwar die, „die nicht mit uns zusammenarbeiten, weil sie einfach nicht kommen, weil sie nicht dazu bereit sind, sich beraten zu lassen, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden.“ Das Geld werde auch nicht sofort gekürzt, wenn jemand einmal einen Termin vergisst. Überdies könne die Minderung auch wieder zurückgenommen werden. Es gebe aber eben auch – sehr wenige – Fälle, die Geld wollen, aber dafür nicht das Geringste tun möchten.

Was das Siegener Jobcenter beschäftigt: Schulden, Sucht, Trennung, Kinderbetreuung

Die Schlagzahl im Jobcenter liegt um einiges höher als in der Sozialarbeit. In der Arbeitsvermittlung werden pro Person bis zu 150 Fälle betreut. „Das kann nur umgesetzt werden, wenn wir die Rolle des Managers einnehmen, Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, so Sczudlik. In der Beratung gehe es darum, beim nächsten Schritt zu unterstützen, bei „Marktnahen“ funktioniere das weitgehend reibungslos, „Marktferne“ bräuchten intensivere Begleitung. „Man muss die Fälle gut steuern“, sagt er – ein Kunde mit gesundheitlichen Problemen etwa brauche viel Zeit; es dauere, in der Vertrauensarbeit an die Problemlagen heranzukommen. Schulden, Sucht, Trennung, Kinderbetreuung seien Themen, die Aufwand erfordern.

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Letztlich sei das Jobcenter als Teil der Sozialverwaltung ein Teil des Systems und davon abhängig, wie viel Geld der Staat in dieses Teilsystem steckt. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, könnten auch 500 alleinerziehende Frauen betreut werden – gerade Alleinerziehende seien aktuell ein Top-Thema, weil Kinderbetreuung vielfach nicht in einem Maß bereitgestellt werden könne, das den Müttern die Berufstätigkeit erlaubt.

Bürokratie-Abbau hat im Zuge der Bürgergeld-Reform eher mäßig funktioniert

Prozesse zu vereinfachen, Bearbeitung zu beschleunigen, habe die Bürgergeld-Reform übrigens nicht erreicht, sagt Christoph Sczudlik – zumindest nicht im Bereich Leistungsgewährung: Nach wie vor sei eine Einzelfallbetrachtung erforderlich, es müsse individuell, pro Person gerechnet werden. „Dafür braucht man geschultes Personal“, so der Jurist: Denn es werde nicht nur nach einem Gesetz gearbeitet wie beispielsweise beim Kindergeld. Vielmehr seien sämtliche Sozialgesetzbücher von I bis XII erforderlich, dazu oft auch das Bürgerliche Gesetzbuch BGB – etwa wenn es bei „Aufstockern“ um die Anrechnung von Einkommen gehe. „Das macht sehr viel Arbeit“, die Sachbearbeiter müssten zahlreiche Regelungen mit bedenken, abfragen, berücksichtigen, korrekt in die Software eingeben. Daran habe sich nichts geändert, auch wenn es Ansätze zur Vereinfachung gegeben habe.

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Immerhin sei bei Bedarfsgemeinschaften die Grenze angehoben worden, ab der zu viel gezahlte Beträge zurückgefordert werden – von 10 auf 50 Euro. Laut Gesetz war demnach vorgesehen, dass auch 10 Euro zu viel zurückgezahlt werden müssen, auch wenn eine Arbeitsstunde in der Sachbearbeitung deutlich über dieser Summe liegt. „Das stand in keiner Relation zum Betrag“, sagt Sczudlik. Ob die Anhebung – die einzige Änderung in diesem Bereich – auch eine Vereinfachung sein werde: „Abwarten. Das wird sich zeigen.“