Siegen-Wittgenstein. Für Betroffene ändert sich eine Menge: Zuständigkeiten, Ansprechpartner, Ansprüche. Den Behörden fehlt Personal – vor allem beim Wohngeld.

Das Bürgergeld kommt, nach zähem Ringen zwischen Regierung und Opposition. Davon betroffen sind in Siegen-Wittgenstein aktuell mindestens 8117 Haushalte, die Leistungen nach SGB II und III empfangen („Hartz IV’’). Was die Neuerung für sie bedeutet, ist aber noch reichlich unklar: Betroffene fürchten, dass die Reform einen Domino-Effekt in Gang setzt – und, dass die zuständigen Behörden personell nicht aufgestellt sind für einen reibungslosen Übergang.

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Unter den Menschen, die noch Hartz IV beziehen und ab Januar Bürgergeld erhalten sollen, sind viele Alleinerziehende und chronisch Kranke aller Altersklassen. Wie zahlreiche Medien berichteten, wurden spätestens mit Beginn der Pandemie personelle und strukturelle Probleme innerhalb von Behörden und Verwaltung offenbar. Verwaltungen mussten zeitweise schließen, die Menschen fanden nur schwer Ansprechpartner oder warteten Wochen und Monate auf die Bearbeitung ihrer Anliegen, etwa Coronahilfen. Nun auch noch die Bürgergeldreform.

Mehr Ansprüche

Gestiegene Regelsätze bedeuten, dass mehr Personen Anspruch auf Leistungen haben – die Zahl der Anträge auf das Bürgergeld dürfte also insgesamt steigen. Aber auch andere Sozialgelder wurden angehoben, beispielsweise das Wohngeld. Für einige Betroffene, etwa berufstätige Leistungsbeziehende oder Bedarfsgemeinschaften mit vielen Kindern, könnte das den Wechsel in andere Sozialhilferegelungen bedeuten, etwa ins Wohngeld/Kinderzuschlag-Modell. Für sie wird dann nicht mehr das Jobcenter zuständig sein.

Bereits bestehende Bedarfsgemeinschaften müssen dann komplett neu berechnet werden. Dazu kommen auch weiterhin laufende Prüfungen, Fallmanagement und – ebenfalls als Teil der Reform - das neue Angebot der aufsuchenden Sozialarbeit. Dabei sollen Jobcenter-Coaches die Leistungsbeziehenden in ihrem Lebensumfeld optimieren und so den Zugang zum Arbeitsmarkt verbessern.

Problem: Wohngeld

„Das Hauptproblem ist nicht mal das Bürgergeld selbst, sondern dass dadurch auch andere Grundsicherungssätze und vor allem das Wohngeld steigen“, erklärt ein Siegener Sozialarbeiter*, der im Rahmen Ambulant betreutes Wohnen Menschen mit Behinderung, psychischen Erkrankungen und Suchterkrankung unterstützt. „Die Kommunen müssen das personell stemmen, eine Mammutaufgabe. Es ist eigentlich schon klar, dass das zumindest beim Wohngeld nicht klappen kann. Betroffene werden monatelang auf ihr Geld warten.“

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Die Stadt Siegen sucht noch immer dringend Personal für ihre Wohngeldstelle: Auf Anfrage der Grünen-Fraktion erklärte die Verwaltung bereits in der Ratssitzung am 9. November, dass mit einer Verdreifachung der Antragszahlen zu rechnen sei. Zum 1. Januar sollten demnach fünf zusätzliche Stellen geschaffen werden, wobei neue Mitarbeiter natürlich zunächst eingearbeitet werden müssten. Zudem sei es schwierig, geeignetes Personal zu bekommen. Stellen würden nun zum Teil intern besetzt.

Kaum Informationen

Die Regelsätze werden angehoben, Bedarfsgemeinschaften müssen neu berechnet werden – aber potenziell Betroffene haben bisher keine Informationen oder neue Bescheide erhalten und wissen somit nicht, welche Leistungen sie ab Januar erhalten werden. Auch zur aufsuchenden Sozialarbeit und anderen Neuerungen im Fallmanagement, zum Beispiel ob und wann sanktioniert wird, wurde bisher nicht informiert. „Viele der Familien, die ich betreue, haben die Sozialreform gar nicht auf dem Schirm“, sagt eine sozialpädagogische Familienhilfe*, die im Sauer- und Siegerland Familien mit und ohne Migrationshintergrund unterstützt, darunter zahlreiche Geflüchtete. „Sie verstehen gar nicht, dass sich ab Januar vieles ändert und alles neu berechnet wird.“ Viele würden von medialer Berichterstattung nicht erreicht. „Manchmal bitten Familien mich um Hilfe, wenn sie Briefe vom Amt erhalten – bis jetzt ist seitens des Amts aber noch nicht informiert worden.“

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Alle Bescheide, die sie bisher gesehen habe, basierten auf alten Regelungen – auch über Neujahr hinaus. Lediglich in der Rechtsbehelfsbelehrung, die jedem Bescheid beigefügt wird, findet sich ein kurzer Absatz, dass Leistungen womöglich angepasst werden. Das Kleingedruckte werde von vielen Leistungsberechtigten aber kaum erfasst.

Neue Zuständigkeiten

Berufstätige, die bislang sogenannte „aufstockende Leistungen“ nach SGB II beziehen, könnten durch die höheren Regelsätze aus dem Bürgergeld herausfallen und etwa durch mehr Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag künftig in andere Regelungen fallen, weil sie mit vorrangigen Ansprüchen bei einer anderen Stelle Hilfen beantragen müssen. Es sei oft schwierig für Betroffene, Informationen oder Beratung zu bekommen: „Ich bin gespannt, wie es ab Januar weitergeht“, sagt eine alleinerziehende, berufstätige Siegenerin*: „Bürgergeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussgeld, Wohngeld… Alles erhöht sich, was ja theoretisch schön ist, aber leider kreuz und quer auf­einander angerechnet wird und unterm Strich gleicht die Erhöhung nicht einmal die Inflation aus.“ Wo sie mit ihrem Einkommen im nächsten Jahr Ansprüche auf Unterstützung habe oder nicht, „weiß kein Mensch.“ Wenn sie dann lese, dass man den Leuten „aufsuchende Sozialarbeit“ schicken wolle, frage sie sich, welche Prioritäten da eigentlich gesetzt werden. „Ich habe eine 55-Stunden-Woche und für sowas überhaupt keine Zeit.“

Wie viele Menschen in Siegen-Wittgenstein tatsächlich betroffen sind und ob das Jobcenter genug Personal hat, um die Reform zu stemmen, konnte die Pressestelle nicht beantworten: Die Beantwortung der Anfrage sei zu aufwendig, hieß es.

*Die Namen sind der Redaktion bekannt.

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