Siegen. Im Siegener Rat wird erbittert gestritten – und geklittert: Lothar Irle, so wird behauptet, sei nur „im Krieg“ Nazi gewesen.

31 gegen 30 Stimmen für die Umbenennung von Lothar-Irle-, Hindenburg- und Bergfriederstraße – knapper ging es nicht. Die Frage, wessen Stimme die ausschlaggebende war, ist müßig: die des Bürgermeisters, der nicht mit der CDU stimmte? Die Stimmenthaltung aus den Reihen der CDU? Oder die zehn Stimmen der Ratsmitglieder, die fehlten oder – obwohl anwesend – nicht mit abstimmten. Fest steht: Wenn SPD, Grüne, Volt und Linke geschlossen und komplett für und CDU, GfS, UWG, FDP, AfD, und AfS ebenso komplett und geschlossen gegen die Umbenennung gestimmt hätten, wäre keine Mehrheit für eine Änderung von Straßennamen zustande gekommen. „Für mich wäre das, als würde man sie erneut ehren“, sagte Bürgermeister Steffen Mues vor der Abstimmung.

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

Von Stoecker zu Stöcker

Martin Heilmann (Grüne) eröffnet die lange Debatte; seine Fraktion plädiert dafür, alle sieben von dem Straßennamen-Arbeitskreis empfohlenen Straßen umzubenennen: also auch Adolf-Wagner-Straße, Porschestraße und Diemstraße „Heute müssen Juden in Deutschland wieder Angst haben, ihre Kippa zu tragen“. Die Benennung einer Straße nach einem „widerlichen Antisemiten“ sei daher umso weniger vertretbar, sagte Heilmann über Adolf Stoecker. Dass die „Stöckerstraße“ für die Frauenrechtlerin Helene Stöcker „umgewidmet“ wird – Gegenstimmen kommen von der CDU –, finden Ratsmitglieder später „smart“ oder „charmant“, zumal die bisher falsche Schreibweise auf dem Straßenschild („ö“ statt „oe“) nun ohne Änderung zur richtigen Schreibweise wird.

+++ Lesen Sie auch: Siegen benennt Straßen um: Hindenburg, Irle, Bergfrieder weg +++

Ingmar Schiltz (SPD) stellt den Kompromissantrag vor, auf den SPD und Volt sich verständigt haben und der am Ende auch mit der knappen Mehrheit beschlossen wird. „Das Schlimmste wäre, wenn gar nichts passiert.“ „Die Straßennamen sollten so bleiben, wie sie sind“, fordert Franz Englert (UWG). „Die betroffenen Bürger sind nahezu geschlossen dagegen“, sagt Christian Sondermann (GfS). „Haben wir keine anderen Sorgen?“, fragt Barbara Dylong (AfS) nicht als einzige. „Billig“ nennt Bürgermeister Steffen Mues dieses Argument später und nimmt auch zu der Informationsveranstaltung in der Bismarckhalle Stellung: Die Stadt habe dazu vor allem die Anlieger eingeladen , auf die Mehrheit der Einwohnerschaft könne man aus deren Votum nicht schließen. Und: „Es kommt nicht nur auf die Sicht der Anwohner an, das fällt auf die ganze Stadt zurück.“

Nazis und Stolpersteine, Diem und Porsche

Die Diskussion geht weiter. „Mit meiner Stimme wird in Siegen keine Straße umbenannt“, sagt CDU-Fraktionschef Marc Klein, spricht von einer „ideologisch geprägten Kampagne“ und einer „Umbenennungsorgie“. „Straßennamen gehören zur Stadtgeschichte“, sagt Klein und begründet seinen später einstimmig beschlossenen Antrag, allen nach Personen benannten Straßen und Plätzen eine Infotafel oder einen QR-Code zu Erläuterungen beizustellen. „Bergfrieder“ Jakob Henrich sei CDU-Mitglied gewesen, Lothar Irle „ein bis heute angesehener Heimatforscher“, und die Hindenburgstraße trage ihren Namen schon seit 1915. „Keiner wurde wegen seiner Verdienste während des Nationalsozialismus gewürdigt.“

Beschlüsse

Hindenburgstraße, Lothar-Irle-Straße und Bergfriederstraße werden umbenannt. das hat der Rat mit 31 gegen 30 Stimmen beschlossen.

Mit der Adolf-Wagner-, der Diem- und der Porschestraße befasst sich der Straßennamen-Arbeitskreis ein weiteres Mal. Diem- und Porschestraße tragen ihre Namen, wie die Lothar-Irle-Straße, erst seit der kommunalen Neugliederung 1975.

Aus der (Adolf-)Stoeckerstraße wird die (Helene-)Stöckerstraße. Die CDU, die auch Recherchen zur Person Helene Stöckers forderte, stimmte dagegen.

Zusätzlich auf eine Umbenennung untersucht wird die Graf-Luckner-Straße, die übrigens bis zur kommunalen Neugliederung zur Stadt Hütental gehörte und dort Hindenburgstraße hieß.

Alle nach Personen benannten Straße und Plätze bekommen Infotafeln zu ihren Straßenschildern oder einen QR-Code zu weiteren Informationen. Das beschloss der Rat einstimmig.

Der Einstufung der weiteren Straßennamen (B: kritisch zu kommentieren, C: unbelastet) folgte der Rat bei zwei Gegenstimmen der AfD.

Martin Heilmann (Grüne) erwähnt Ferdinand Porsche, die Zwangsarbeit und das „Säuglings-KZ“ bei VW: „Wir wollen ihn nicht mehr ehren“ – losgelöst von der juristischen Einschätzung nach dem krieg. Bürgermeister Steffen Mues wundert sich, dass der Rat auch mit Carl Diem „zimperlich“ umgeht: Die Sportverbände hätten längst alle mit ihm verbundenen Würdigungen zurückgenommen. „Jeder Tag mehr, an die die Straßen diese Namen tragen, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihre Hinterbliebenen“, sagt Henning Klein (Linke) – für die Stadt Siegen „eine Schande“. Michael Groß (Grüne) wirft der CDU vor, „in einer unerträglichen Art und Weise geschichtsrelativierend“ zu argumentieren. Während der Stadtjugendring sich um die Stolpersteine für die Opfer bemühe, stelle sich der Rat auf die Seite der Täter: „Was für ein Bild geben wir gegenüber den jungen Leiten ab?“

+++ Lesen Sie auch: Siegen: Neuer Straßenname – was kommt genau auf Anwohner zu? +++

Lothar Irle: „Bitter bereut“

Silke Schneider (Linke) glaubt nicht, dass Anwohner mehrheitlich die Änderung der Straßennamen ablehnen. „Die, die sich schämen, dass sie in so einer Straße wohnen, schweigen.“ Zumindest von der Lothar-Irle-Straße in Kaan-Marienborn, die bis zur kommunalen Neugliederung 1975 noch „Talstraße“ hieß, zeichnet Johannes Tigges (CDU) ein anderes Bild: Irle sei „überaus geschätzter Heimatforscher und -dichter“, die von ihm verfasste Chronik ein „unersetzliches Erbe der Geschichte Kaan-Marienborns“. Irles Mitgliedschaft in der NSDAP („im Krieg“) sei „sicherlich kritikwürdig“, er habe seine Haltung aber nach dem Krieg in einem Brief an seine Kinder „bitter bereut“. Diese Darstellung des NS-Lehrerfunktionärs und NSDAP-Mitglieds der ersten Stunde stößt im Rat auf lautstarkes Unverständnis. Schon die Mitgliedschaft in der NSDAP sei „kriminell“, sagt Julia Shirley (Grüne).

+++ Lesen Sie auch: Straßennamen Siegen: Hindenburg, Irle &Co müssen weg, sofort +++

Hindenburg mit oder ohne Brücke

Klaus Volker Walter (FDP) votiert ausdrücklich gegen die Umbenennung der Hindenburgstraße, Hans Günter Bertelmann (UWG) bezeichnet die fortschreitende Debatte als „sehr bedrückend“: „Ich bin richtig aufgewühlt.“ Michael Schwarzer (AfD) schließt sich der Haltung an, auch im Licht der Recherchen des Arbeitskreises den Straßen ihre Namen zu lassen: GfS und CDU „haben meiner Fraktion Wort für Wort aus der Seele gesprochen“.

+++ Lesen Sie auch: Nazi-belastet: Sieben Siegener Straßen vor der Umbenennung +++

Im Raum stehen bleibt die Behauptung von Barbara Dylong (AfS), Deutschland sei 1945 auf der Potsdamer Konferenz von den Allierten „entnazifiziert“ worden. Und die Frage nach der „Hindenburgbrücke“. Die gebe es offiziell gar nicht, stellt Bürgermeister Steffen Mues klar. Die Siegbrücke in der Hindenburgstraße hat tatsächlich keinen Namen. Trotzdem ist eine Bushaltestelle nach ihr benannt – auch darum wird sich wohl noch jemand kümmern. Wie um die Frage, wie Lothar-Irle-, Hindenburg- und Bergfriederstraße in Zukunft heißen sollen.

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++