Siegen. Siegener Forscher über Nachteile von Homeschooling: Nicht nur die Wissensvermittlung leidet in der Pandemie – sondern auch andere Kompetenzen.
Während der Lockdowns hatten viele Schulkinder kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Das gemeinsame Lernen von zu Hause aus und auch die Freizeitgestaltung konnten nur digital stattfinden. Darunter habe nicht nur die Vermittlung von Lerninhalten, sondern vor allem auch die Entwicklung emotionaler, kreativer und sozialer Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen gelitten, so Dr. Jörg Siewert, Bildungswissenschaftler mit Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Siegen.
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„Sowohl vom Bund als auch vom Land gibt es Förderprogramme für Schulen, um die Lerndefizite aus der Pandemiezeit aufzuholen“, sagt der Bildungswissenschaftler. Er leitet die Arbeitsstelle „Siegener Netzwerk Schule“ der Universität und berichtet, dass von der finanziellen Unterstützung des NRW-Förderprogramms „Extra Lernzeit“ nur wenig an den Schulen ankomme. Das sei letztlich auch deswegen nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“, da dieses wenige Geld überwiegend zum Aufholen von Lernrückständen in den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathe eingesetzt werde.
Experte der Uni Siegen: Lockdowns und Isolation können für Kinder problematisch sein
Dr. Jörg Siewert findet das problematisch. Er ist sich sicher: Defizite in sozialen, emotionalen und kreativen Bereichen seien durch die Isolation während des Lockdowns noch viel gravierender. Es werde nur auf das Leistungsniveau geschaut und nicht auf die ganzeinheitliche Entwicklung der Kinder – bedauerlich und zu kurz gegriffen. Denn aus unterschiedlichen Studien wisse man: Emotionale und soziale Kompetenzen wie auch die kreative Entfaltung sind ganz entscheidende Lernbereiche für die spätere Entwicklung der Kinder.
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Allerdings hätten genau diese besonders stark unter dem Homeschooling gelitten. „Diese Tatsache ist schon während der Pandemie hinten runter gefallen und auch jetzt beim Aufholen des Rückstands werden diese Fähigkeiten vernachlässigt“, sagt der Bildungswissenschaftler. Politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit sollten auch auf diese Teilbereiche des Lernens gerichtet werden, fordert Siewert – es sei vielleicht sogar noch wichtiger als die fachlichen Lücken.
Siegen: Persönlicher Austausch mit Gleichaltrigen ist wichtiger Aspekt des Schulalltags
Ein strukturierter Tagesablauf, gemeinsames Lernen, gewohnte Begegnungen mit den Mitschülern seien für eine ganzeinheitliche Entwicklung der Kinder und Jugendliche besonders wichtig, um psychischen Krankheiten vorzubeugen. Nur zuhause mit den Eltern vor dem Bildschirm Aufgaben zu bearbeiten könne einen normalen Schulalltag und den direkten, sozusagen analogen Austausch mit Gleichaltrigen und Lehrkräften nicht zufriedenstellend ersetzen, betont Siewert – auch wenn die meisten Schulen mittlerweile eine gute digitale Infrastruktur und die Lehrkräfte gutes didaktisches Wissen hätten. Zuhause könne man nie richtig Abschalten, auch die Einhaltung von Pausen könne schwierig werden.
Besser kommunizieren
Sollten Schulschließungen trotz allem wieder nötig werden, plädiert Jörg Siewert dafür, Schulen, Eltern und Schülerschaft rechtzeitig zu informieren. Wieder auf Homeschooling zu wechseln sei an sich wenig effektiv, so der Forscher.
Das aktuelle Maßnahmenchaos betreffe Schulkinder nicht so sehr wie Erwachsene. Zwar führe das Tragen der Maske im Unterricht bei einigen Schüler und Schülerinnen zu Kopfschmerzen oder Konzentrationsproblemen. Die Meisten seien aber froh, wenn sie – wie bei der wiedereingeführten Maskenpflicht – konkrete Anweisungen bekommen, an die sie sich halten sollen. „So müssen die Kinder nicht selbstständig entscheiden, ob sie es machen oder nicht“, erklärt Siewert. So sei es vorgekommen, dass Schulkinder komisch angeguckt wurden, wenn sie sich dazu entschieden, die Maske abzusetzen – kontraproduktiv für eine gute Klassengemeinschaft. Mit klaren Anordnungen hingegen komme es nicht zu solchen unangenehmen Situationen: Jeder wisse, wie er sich zu verhalten habe.
Siegen: Jetzige Erst- und Zweitklässler kennen Schule nur unter Pandemiebedingungen
„Es gibt viele Kinder, die kennen Schule gar nicht anders“, sagt Jörg Siewert. „Die jetzigen Erst- und Zweitklässler haben die Schule bisher nur unter Pandemiebedingungen kennengelernt.“ Zudem fehlten vielen Grundschulkindern aufgrund der Lockdowns wichtige Kindergartenerfahrungen. Masken, regelmäßige Corona-Tests, Abstand halten, Händewaschen – das alles sei gerade für diese Kinder, aber mittlerweile auch für alle anderen Schülerinnen und Schüler normal.
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Allerdings unterscheide sich die Durchführung der Testungen je nach Schule. In manchen ist es Teil des Unterrichts, der entsprechend gestaltet werde: „Die Schülerinnen und Schüler erhalten Aufgaben und haben alle etwas zu arbeiten, die Bearbeitung wird individuell nur für den Test unterbrochen“, erklärt der Bildungswissenschaftler. Andernorts falle dagegen für den Test eine ganze Stunde aus, weil alle Kinder im Klassenverbund auf das Testen und die Ergebnisse warten. Das könne zu neuen Lernrückständen führen. Trotz der Unterschiede seien Testungen aber inzwischen überall Routine.
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