Siegen. Zwischen Blau und Gelb und Finsternis: Wie wechselnde Mehrheiten den Siegener Rat durcheinander bringen. Und was das mit der Ukraine zu tun hat.

Am Eingang des Gläsersaals steht ein Flipchart, daran gepinnt ist der Sitzplan für die 70 Stadtverordneten und die Verwaltung mit dem Bürgermeister an der Spitze. Elf Plätze für neun Fraktionen in der ersten Reihe, hinter denen sich dann die weiteren Ratsmitglieder versammeln – wenigstens da ist die neue Unübersichtlichkeit geordnet. Die neue, aus der CDU herausgelöste GfS („Gemeinsam für Siegen“) wurde neben die AfD (aus Sicht des Bürgermeisters rechtsaußen) platziert, als Trenner zur CDU fungieren die Stadtverordneten der UWG. Frank Weber und Isabelle Schmidt, bis zum Beginn der vorigen Woche noch Fraktionsvorsitzender und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, haben sich ganz nach hinten in die letzte Reihe gesetzt.

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Vorab: Der Krieg, die Ukraine und Siegen

Johannes Werthenbach, dem in Freudenberg wohnenden Leiter des Bürgermeister-Büros, fällt auf, dass die Ukraine und die Stadt Freudenberg dieselben Farben haben – auf der Leinwand im Gläsersaal ist das Siegener Stadtwappen mit Blau und Gelb unterlegt. Gleich am Anfang wird der Rat einstimmig eine Resolution beschließen, die CDU und SPD eingebracht haben und die die „Verantwortlichen in Bund und Land“ auffordert, sich für das Ende des Krieges und den Rückzug der russischen Truppen einzusetzen. Und ebenso einstimmig auf Antrag der Grünen, dass die Stadt Geflüchtete zusätzlich aufnehmen, Spendensammlungen und Hilfsgütertransporte unterstützen wird. Sozialdezernent Andree Schmidt bittet noch darum, die kniffligen Fälle den Profis zu überlassen „und davon abzusehen, selbst in die Grenz- und Kriegsgebiete zu fahren. Wir werden alles tun, um möglichst vielen Menschen Unterstützung zukommen zu lassen.“

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Der Sozialdezernent berichtet dann auch noch, dass die ersten unbegleiteten Kinder in Siegen angekommen seien, „die werden von ihren Familien losgeschickt.“ Der Rat wird sich an diesem Abend noch ein weiteres Mal mit den Auswirkungen des Kriegs auf Siegen zu befassen haben. Zuerst aber: die Verabschiedung des Haushalts – die nicht gelingen wird.

Erster Akt: Herausfordern – die CDU-SPD-Kooperation und die Sechs

In seiner Haushaltsrede, die er nicht hält, sondern – zur Verkürzung der Sitzungsdauer wegen Corona – wie die anderen acht Fraktionsvorsitzenden nur zu Protokoll gibt, hat Grünen-Fraktionschef Michael Groß seiner Freude über „die Zusammenarbeit mit der neuen demokratischen Opposition und die neuen Möglichkeiten, die sich uns in diesem Jahr ergeben“, ausgedrückt. Die Umsetzung folgt auf dem Fuß: Groß besteht darauf, den „politischen Antrag“ von Grünen, UWG, GfS, FDP, Linken und Volt zu beschließen, bevor es in die Details des Etats geht. Darin drücke sich „klarer Gestaltungswille“ aus. Bürgermeister Steffen Mues unterbricht die Sitzung zum ersten Mal für eine Viertelstunde.

Zur Orientierung für die neun Fraktionen wird ein Sitzplan aufgestellt.
Zur Orientierung für die neun Fraktionen wird ein Sitzplan aufgestellt. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Es geht weiter: Das Sechs-Fraktionen-Paket (585 statt 605 Prozent Grundsteuer, keine höhere Gewerbesteuer, weniger Stellen im Bürgerbüro und mehr in der Wohngeldstelle) soll abgestimmt werden, danach aber Stellenplan, Steuersatzung und Haushalt noch einmal einzeln. „Wenn zwischendurch einer auf Toilette geht, kann es immer wieder ganz anders aussehen“, warnt der Bürgermeister. Denn knapp wird es auf jeden Fall. Benjamin Grimm (CDU) beantragt geheime Abstimmungen.

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Samuel Wittenburg (Volt) nennt den gemeinsamen Auftritt der sechs Fraktionen „historisch“. Ingmar Schiltz (SPD) sieht das irgendwie auch so: „Sollten Sie sich heute durchsetzen, müssen Sie die Konsequenzen tragen. Das wird in einer Haushaltssperre enden.“ Schiltz wirft dem neuen Bündnis vor, sich auf ein Gespräch nicht eingelassen zu haben. Die Zusammenkunft am Freitag der vorigen Wochen sei eine „Farce“ gewesen. „Wir wären verhandlungsbereit gewesen.“ Michael Groß (Grüne) bezeichnet Schiltz’ Statement als „verlogen“. Nacheinander äußern sich Klaus Volker Walter (FDP) gegen eine noch höhere Grundsteuer („Die Bürger sind sowieso überfordert“), Henning Klein (Linke) zur 60-Prozentpunkte-Erhöhung („das kleinere Übel“) und Christian Sondermann (GfS) zu den Luftfiltern in Klassenzimmern: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass derselbe Spaß nicht im Herbst wieder anfängt.“ Michael Schwarzer (AfD) schließlich klingt etwas beleidigt, dass seine Fraktion nicht an den Vorgesprächen beteiligt wurde. „Wir wurden nicht eingeladen.“ Später wird Hans Günter Bertelmann (UWG) noch durchblicken lassen, dass es so einfach auch nicht ist mit den sechs Fraktionen: „Wir hatten natürlich gewisse Schwierigkeiten, alles übereinander zu kriegen.“

Zweiter Akt: Zurückkeilen – die Siegener Verwaltung und der Rat

Danach holt Stadtbaurat Henrik Schumann aus: Dass in den Fachausschüssen kaum diskutiert und erst jetzt Anträge zum Haushalt vorgelegt würden, „signalisiert Desinteresse, dass eine echte Auseinandersetzung mit der Verwaltung nicht gewünscht wird“. Anke Schreiber, Abteilungsleiterin Straße und Verkehr, spricht sonst nicht im Rat – diesmal aber doch, vor allem zum beantragten Sperrvermerk für den Schleifmühlchen-Kreisel. Sie verweist auf seit Jahren wiederholte Beschlüsse und die bevorstehende Sondersitzung, in der der Ausbauplan vorgestellt wird. „Das verstehe ich nicht. Muss ich auch nicht verstehen.“ Anke Schreiber nimmt die Verkehrsanträge der sechs Fraktionen auseinander. „Verkehrsplanern geht der Hut hoch. Ich hör jetzt auf.“

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Und der Kämmerer fängt an. Mit dem Sechs-Fraktionen-Antrag entstehe ein Defizit von 60.000 Euro im Haushalt, der somit von der Kommunalaufsicht nicht genehmigt werde. Eigentlich müsse die Grundsteuer nicht um 80, sondern um 340 Prozentpunkte erhöht werden. Weil eigentlich über zwölf Millionen Euro fehlen, die nur durch Kunstgriffe unsichtbar gemacht werden. Mit Mehreinnahmen von Bußgeldern zu kalkulieren, so Cavelius zum Antrag der sechs Fraktionen, die Ansätze für die Bußgelder zu erhöhen, „ist genauso seriös wie darauf zu vertrauen, dass die Besucherzahlen in den Schwimmbädern aufgrund eines schönen Sommers steigen werden, oder wir weniger Streusalz benötigen, weil der Winter mild ausfallen wird“. Der Kämmerer bittet nicht, sondern „fordert“ die Erhöhung der Grundsteuer um 80 Punkte. Und ist nachhaltig sauer: „Sie können oder Sie wollen mich nicht verstehen.“

Dritter Akt: Eskalieren – der geplatzte Haushalt

Die letzte Eskalationsstufe zündet Michael Groß (Grüne): Die 60.000 Euro Defizit seien ein „Popanz“ – die im Januar durchgesetzte Museumserweiterung ziehe eine Million Euro Folgekosten pro Jahr nach sich. „Lächerlich“ sei es, nun die Nicht-Genehmigung des Haushaltes durch die Bezirksregierung vorherzusagen. „Wenn Sie das wollen, kriegen Sie das hin“, sagte Groß dem Bürgermeister, „dann machen Sie aber ein ganz neues Fass auf – das sage ich Ihnen.“ Steffen Mues wies die „Unterstellung“ zurück, er würde den von einer Ratsmehrheit beschlossenen Haushalt durch Intervention bei der Kommunalaufsicht hintertreiben. „Ich finde das unmöglich. Wir werden dafür kämpfen, dass der Haushalt genehmigt wird.“

Der Ukraine-Krieg wird in Siegen sichtbar – nicht nur an der Siegerlandhalle, die in Gelb und Blau leuchtet
Der Ukraine-Krieg wird in Siegen sichtbar – nicht nur an der Siegerlandhalle, die in Gelb und Blau leuchtet © Steffen Schwab | Steffen Schwab

In geheimer Abstimmung beschließt der Rat mit 34 gegen 33 Stimmen das Antragspaket der sechs Fraktionen. Die CDU-SPD-Kooperation selbst ist mit 32, die sechs Fraktionen sind mit 31 Ratsmitgliedern vertreten, so dass die fünf Stimmen von AfD und Fraktionslosen den Ausschlag gegeben haben könnten.

Den Stellenplan, unter anderem mit zusätzlichen Stellen für die Gebäudewirtschaft, lehnt eine – wiederum geheime – Mehrheit von 32:34 Stimmen ab; je ein Ratsmitglied enthält sich der Stimme oder stimmte ungültig. Der formelle Beschluss über die Grundsteuer B wird mit 35 gegen 33 Stimmen gefasst, der Hebesatz steigt also von 525 auf 585 Prozent.

Auf Antrag der SPD-Fraktion folgt eine lange Sitzungsunterbrechung, während der – so danach Bürgermeister Steffen Mues – „eine Menge Gespräche“ geführt werden. Das Ergebnis: Die Verabschiedung des Haushalts wird auf den April verschoben. „Das verschlägt nichts“, meint Mues, weil die Bezirksregierung das vorgelegte Zahlenwerk schon wegen des fehlenden Stellenplans nicht genehmigt hätte.

„Was wir angekündigt haben, ist eingetreten“, sagt SPD-Fraktionschef Detlef Rujanski am Ende: Durch den Sechs-Fraktionen-Antrag sei der Haushalt in die roten Zahlen geraten, an ihnen sei es nun, eine Haushaltsmehrheit zu gewinnen: „Die Verantwortung liegt nun klar bei den sechs Fraktionen.“ Michael Groß (Grüne) weist das zurück: Die Ratsmehrheit sei eben nicht konsequent dem Konzept der – bisherigen – Opposition gefolgt. „Den Stellenplan haben Sie abgelehnt, nicht wir. Aber wir übernehmen auch so Verantwortung.“

Danach: Der Krieg – und die Gasrechnung

Die öffentliche Sitzung endet da, wo sie angefangen hat: Der Stadtbaurat informiert den Rat, dass es nichts wird mit dem Umstieg auf Bioerdgas. Es sei „absolut nicht sichergestellt, dass wir überhaupt Angebote erhalten“, berichtet Henrik Schumann, „der Gasmarkt ist außer Rand und Band.“ Auf fünfjährige Lieferverträge, wie Siegen sie abschließen will, lasse sich derzeit kein Unternehmen ein. „Wir müssen sehen, dass wir ab 1. Januar 2023 überhaupt versorgt sind.“ Der Rat stimmt der Änderung der Ausschreibung zu. Siegen bestellt für ein Jahr konventionelles Erdgas, zu jedem Preis.

Draußen ist es dunkel geworden. Die Siegerlandhalle leuchtet in Blau und Gelb.

Zum Kommentar: In Siegen müssen wieder alle miteinander reden

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