Niederschelden. Ob der einzige Deich im Regierungsbezirk die Menschen in Siegen vor Hochwasser schützt: fraglich. Großteil des Problems in Niederschelden: Bäume.

Der einzige Deich im Regierungsbezirk Arnsberg kann die Menschen womöglich nicht effektiv vor Hochwasser schützen. Das war noch vor der verheerenden Flut in Eifel und Ahrtal festgestellt worden, die Aufsichtsbehörde sieht dringenden Anlass, zu handeln. Dafür müssen wahrscheinlich die meisten Bäume, die auf und neben dem Deich stehen, gefällt werden.

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Das gut zwei Kilometer lange Bauwerk, errichtet 1973, schützt das „Inseldorf“ Niederschelden vor Hochwasser der Sieg. „Der Deichaufbau ist unklar“, stellte Christof Quandel fest – auch seine Abdichtung. Und vor allem: Der Bewuchs ist unzulässig. Die DIN-Vorschrift 19712 ist da eindeutig – Bewuchs hat auf Deichen nichts verloren. Die Wurzeln reichen tief in den Deich hinein, wachsen teils schon durch den Asphalt und schwächen das Bauwerk – erst recht, wenn einer umstürzt und große Schäden in das Bauwerk reißt, die Schutzfunktion ist dann erheblich geschwächt.

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Im Ernstfall können Einsatzkräfte den Deich in Siegen nicht erreichen – zu viele Bäume

Allerdings stehen dort hunderte Bäume, dazu Büsche, Sträucher, Unterholz. Der Weg auf der Deichkrone ist ein Idyll, sagt Quandel, unbestritten. Aber die Pflanzen müssen weg, besser früher als später. Dass der Erholungswert in dem Bereich dadurch drastisch sinkt, ist unbestritten. Aber im Moment weiß niemand, wie groß die Gefahr wirklich ist, ob der Deich im Katastrophenfall hält. Schadstellen zu sanieren würde einen erheblichen Aufwand bedeuten und Spezialgerät erfordern, das schwer zu bekommen ist. Und die Zeit drängt.

An einigen Stellen des Deichs in Siegen-Niederschelden wachsen die Wurzeln durch den Asphalt.
An einigen Stellen des Deichs in Siegen-Niederschelden wachsen die Wurzeln durch den Asphalt. © Hendrik Schulz

Weiteres Problem: Es gibt keinen Verteidigungsweg am Deich. Laut Vorschrift müssen Deiche leicht zugänglich sein, damit Einsatzkräfte im Ernstfall problemlos zur Einsatzstelle gelangen können. Das ist in Niederschelden nicht überall der Fall – an einigen Stellen möglich, aber schwierig. Von der Deichkrone aus kann der Deich nicht verteidigt werden, erklärt Quandel: „Das würde der Deich nicht aushalten.“ Hinsichtlich der Zugänglichkeit sind nicht nur die Bäume im Weg, der Verteidigungsweg führt stellenweise auch über Privatgrundstücke.

Stadt Siegen will sich für den Erhalt möglichst vieler Bäume am Deich einsetzen

In Niederschelden regt sich unterdessen Widerstand gegen die Fällung. Ein Anwohner, dessen Haus direkt an der Sieg steht, hat schon viele Hochwassersituationen beobachtet: Die Wassermassen drücken außen gegen den Hang, sagt er, nicht gegen den Deich an der Innenseite des Siegbogens. Und wie beim Abschnitt Richtung Rheinland-Pfalz – eine Wiese – könne auch das Unterholz im vorderen Bereich entfernt werden, damit Einsatzkräfte den Deich zur Verteidigung erreichen können.

In Siegen-Niederschelden regt sich Widerstand gegen die Baumfällungen auf und neben dem Deich
In Siegen-Niederschelden regt sich Widerstand gegen die Baumfällungen auf und neben dem Deich © Hendrik Schulz

Eine Machbarkeitsstudie soll die nötigen Erkenntnisse liefern, ob und wie der Deich ertüchtigt werden oder womöglich sogar ganz neu gebaut werden kann. Womöglich kann ein Teil der Bäume auch erhalten bleiben – das muss sich zeigen. ESi hat die Untersuchung kurzfristig auf den Weg gebracht und steht in ständigem Austausch mit der Aufsichtsbehörde und externen Fachleuten. „Es gibt zig Möglichkeiten, das muss wirklich vernünftig von Ingenieuren durchdacht und geplant werden“, betont Christof Quandel. Auch wenn es natürlich schade um jeden Baum sei: „Der Hochwasserschutz und damit der Schutz der Menschen geht ganz klar über den Schutz der Bäume.“

Viele Niederschelder finden: Der Bereich vor dem Deich jönnte gerodet werden, damit Einsatzfahrzeuge im Ernstfall zum Deich kommen. Vielleicht müssen auch ein paar Bäume weg – aber nicht alle.
Viele Niederschelder finden: Der Bereich vor dem Deich jönnte gerodet werden, damit Einsatzfahrzeuge im Ernstfall zum Deich kommen. Vielleicht müssen auch ein paar Bäume weg – aber nicht alle. © Hendrik Schulz

Unter anderem Bürgermeister Steffen Mues, der Heimatverein Niederschelden und Anlieger hatten bei einem Ortstermins bereits bekräftigt, sich für den Erhalt möglichst vieler Bäume einsetzen zu wollen. Um sie zu retten war die Idee einer Spundwand aufgekommen, die hinter dem Deich tief im Boden verankert wird. Dabei stellen sich aber laut Quandel die gleichen Probleme: Das Sicherheitsproblem ist akut, die Zeit drängt – und ein solches Bauwerk müsste wasserrechtlich genehmigt werden, was mindestens sechs, eher neun Monate dauern würde.

Eine Spundwand als Deich-Ersatz und Baum-Rettung ist aktuell keine Lösung

Außerdem ist der Bereich nicht nur im Ernstfall für Einsatzkräfte schlecht erreichbar, sondern auch für die Spezialmaschinen, die die meterhohen Spundwände errichten sollen. Die sind drei Meter breit – und mehr –, die Bäume, die dadurch ja gerettet werden sollten, müssten ebenfalls drastisch zurückgeschnitten werden. 2 bis 2,5 Millionen Euro würde eine Spundwand vor dem gesamten Deich kosten, so Quandel – und ohne die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie könnte es durchaus sein, dass der Hochwasserschutz damit nicht ausreichend gewährleistet wäre. Aber sie könnte natürlich auch ergeben, dass Spundwände das Problem lösen kann. Zumindest für eine Übergangszeit könnte es möglich sein, „den ein oder anderen Baum“ stehen zu lassen. Auch Fragen wie die im Deich verbleibenden Wurzeln gelte es in diesem Rahmen zu klären.

Richtung Rheinland-Pfalz ist der Deich von beiden Seiten aus recht gut erreichbar. Die sogenannte Verteidigung durch Einsatzkräfte im Hochwasserfall muss bei Deichen sichergestellt sein.
Richtung Rheinland-Pfalz ist der Deich von beiden Seiten aus recht gut erreichbar. Die sogenannte Verteidigung durch Einsatzkräfte im Hochwasserfall muss bei Deichen sichergestellt sein. © Hendrik Schulz

ESi und Bezirksregierung hätten sich nicht mit Ruhm bekleckert, erregt sich Joachim Boller (Grüne), man habe die Politik aus der Sache herausgehalten und wertvolle Zeit verschwendet, die mögliche Lösung einer Spundwand hätte vom Entsorgungsbetrieb entwickelt werden müssen statt vom Heimatverein Niederschelden. „Die Bäume sind dort landschaftsprägend, es wird dort völlig anders aussehen, wenn hunderte nicht mehr da sind.“

Ein Zögern könnte die Menschen in Siegen-Niederschelden bei Hochwasser gefährden

Man sei von der Bezirksregierung zu der Untersuchung aufgefordert worden, entgegnet Christof Quandel, die habe man gemacht, das Ergebnis im Juni nach Arnsberg gemeldet, im August kam dann die Anweisung, den Bewuchs vom Deich zu entfernen. Ob eine Spundwand tatsächlich die Lösung ist: Fraglich; zudem stehe sie nicht ad hoc zur Verfügung, sondern wenn überhaupt erst in Monaten. „Wir reden über Herbst und Winter“, sagt er: mit viel Wind, viel Wasser, viel Regen. Es könne gut sein, dass in den kommenden sechs bis neun Monaten nichts passiert – aber ein Zögern könnte auch Leib und Leben von Menschen kosten. „40 Jahre ist nichts geschehen. Es kann aber sein, dass es nächste Woche so weit ist.“ Das ist das Wesen des Katastrophenschutzes.

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Schutz von Leib und Leben habe Vorrang vor allem anderen, sprang Klaus Volker Walter (FDP) bei: Viele Ältere würden sich sicher noch an überflutete Siegwiesen und Keller voller Wasser erinnern.

Vorschlag: Beschließen, dass der Siegener Deich kein Deich ist

Dass ein großer Teil der Bäume – zunächst – gerettet werden konnte, fand Ingmar Schiltz, SPD-Stadtverordneter für Niederschelden, „klasse“. Die Kommunikation mit der Bevölkerung könne man aber in der Tat verbessern; ihn erreichten derzeit viele Anfragen, etwa ob der Weg weiter benutzbar sei, wie viele Bäume denn tatsächlich betroffen sind, ob private Grundstücke zum Teil aufgegeben werden müssen. „Das Thema wühlt die Menschen in Niederschelden auf.“

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Silke Schneider (Linke) schlug vor, den Deich als Uferböschung zu betrachten, da seien Bäume erlaubt. „Wir haben noch nicht geprüft was passiert, wenn wir beschließen, dass der Deich kein Deich ist und die Bäume stehen bleiben“, sagte Bürgermeister Steffen Mues.

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Julia Shirley (Grüne) verwies auf Ersatzpflanzungen: „Wir dürfen keinen weiteren Baum verlieren, wenn die Umstände uns dazu zwingen, müssen wir entsprechend tätig werden.“ Das sei selbstverständlich und sogar Gesetz, pflichtete der Bürgermeister bei – „aber nicht auf dem Deich.“ Wenn der Deich komplett neu gebaut werden müsste, „haben wir ein Problem, neue Bäume in Deichnähe zu pflanzen“, so Mues mit Blick auf die Privatgrundstücke.