Wilnsdorf. Der Verein Stitching for School and Life startete vor einem Monat in Siegen einen Hilferuf für Menschen in Afghanistan. Was ist seitdem passiert?
„Die Lebensumstände in Afghanistan verschlechtern sich unter der Herrschaft der Taliban immer weiter“, sagt Zohra Soori-Nurzad. Darauf möchte die Aktivistin weiter aufmerksam machen. Sie ist als Kind selbst mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen. Vor einigen Jahren gründete sie den Verein „Stitching for School and Life“ (SSL), um vor allem Frauen und Kindern in ihrem Heimatland zu helfen (wir berichteten). Das letzte Mal wandte sich Zohra Soori-Nurzad mit einem Hilferuf an die Medien, als die Bundeswehr noch in Kabul war und die Möglichkeit bestand, die Hilfskräfte des Vereins schnell nach Deutschland zu überführen. Was hat sich seitdem getan?
Afghanistan-Krise: Wie ist die Situation vor Ort?
Die Hoffnung, die Hilfskräfte nach Deutschland zu überführen, habe sich nicht erfüllt, erzählt Zohra Soori-Nurzad. Sie hätte zusammen mit ihrem kleinen Team in den letzten Wochen bis zur Erschöpfung daran gearbeitet, ihre Helfer und Vereins- oder Netzwerkmitglieder in Afghanistan an das Auswärtige Amt weiterzuvermitteln.
Aus Krisenregion holen
Die letzten vier Wochen hat das Team von SSL konzentriert daran gearbeitet, ihre Schützlinge aus der Krisenregion herauszuholen. Zu ihnen zählt auch die Familie des Afghanen Hamed Rahimi, der nach seiner Flucht in Kreuztal untergekommen ist (wir berichteten). „Seine Familienmitglieder konnten bis jetzt noch nicht gerettet werden. Seine Frau und zwei Kinder warten immer noch in Afghanistan auf Hilfe“, berichtet Zohra Soor-Nurzad.
Dafür hat SSL eine Liste ihrer Unterstützer und Schützlinge an das Auswärtige Amt weitergeben. Unter ihnen sind überwiegend Frauen und Kinder. Ob und wann die Ortskräfte nach Deutschland geholt werden können – dazu gibt es bis jetzt keine offizielle Rückmeldung. „Ich konnte auch leider keinen beim Auswärtigen Amt erreichen, der mir genauere Informationen über den Ablauf geben hätte können“, sagt Zohra Soori-Nurzad.
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Sie und ihr Team hätten den Fokus darauf gelegt, den Kontakt zu ihren Leuten in Afghanistan aufrecht zu halten. Dies sei allerdings nur sehr eingeschränkt möglich gewesen, da die Taliban-Regierung die digitale Kommunikation gezielt manipuliere. Auch die Medien vor Ort seien mittlerweile überwiegend unter der Kontrolle der Taliban. „All diese Faktoren erschweren die Kontaktaufnahme“, berichtet Zohra Soori-Nurzad.
Siegerland: Wie geht es den Siegener Afghanistan-Helfern?
Auch für die Helfer sei es eine belastende Situation: „Ich war so beschäftigt, dass ich in den letzten Monaten keine fünf Minuten Zeit für mich selbst hatte“, sagt die SSL-Gründerin. Die Hoffnung darauf, dass alle, die ausreisen möchten, bald auch das Land verlassen dürfen, helfe dem Verein dabei, durchzuhalten und nicht aufzugeben.
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„Unsere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat uns das Versprechen geben, dass Deutschland seine Leute, vor allem die Frauen und Kinder, auch nach dem Abzug weiter aus Afghanistan rausholen werde“, erinnert Zohra Soori-Nurzad. „Auf die Einlösung dieses Versprechens hoffen wir jetzt einfach.“
Afghanistan-Krise: Welches Schicksal droht den Helfern vor Ort?
„Leider ist eine große Anzahl unserer Hilfskräfte zwei Wochen nach der Machtübernahme der Taliban verloren gegangen.“ Von fünf ihrer Schützlinge weiß Zohra Soori-Nurzad, dass sie nicht mehr leben. Bei den anderen sei das Schicksal ungewiss. Sie geht von drei Möglichkeiten aus: Entweder haben die Ortskräfte aktuell keinen Zugang zu einem WLAN-Netzwerk oder sie sind möglicherweise von der Hungersnot betroffen und aufgrund dessen mittlerweile verstorben.
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Die letzte Möglichkeit sei, dass die Verbindung ihrer Schützlinge nach Deutschland von den Taliban enttarnt wurde und sie sie bereits inhaftiert oder exekutiert haben. „Es ist einfach schrecklich, was aktuell in Afghanistan mit ehemaligen Unterstützern Deutschlands passiert“, mahnt sie. „Es ist traumatisierend, was für Bilder und Videos uns in den letzten Wochen aus Afghanistan erreicht haben.“ Mit einem Stillstand wolle sie sich nicht zufriedengeben, so Zohra Soori-Nurzad. Daher erhebt sie ihre Stimme.
Verein Stitching for School and Life: Wie ist das Verhalten Deutschlands zu bewerten?
Unbestreitbar bleibe, dass Deutschland eine Mitschuld an der aktuell schwierigen Situation in Afghanistan trifft. „Wir haben, auch nach Abzug der Bundeswehr, die Verantwortung, die Menschen zu retten, die uns jahrelang unterstützt haben“, appelliert Zohra Soori-Nurzad. Die deutschen Streitkräfte hätten viel Gutes während ihrer Zeit in Afghanistan geleistet. „Ohne die Deutschen hätten die Frauen nie Zugang zu Bildung erhalten“, unterstreicht die Aktivistin.
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Die beiden Länder verbinde eine lange Freundschaft. Viele Afghanen seien davon ausgegangen, dass gerade Deutschland wisse, wie man ein Land nach dem Krieg nachhaltig aufbaut. Die Hoffnung war groß, dass die Bundeswehr dem kriegsgebeutelten Afghanistan helfen kann. Aber eine nachhaltige Hilfe in den politischen Strukturen sei ausgeblieben, so Zohra Soori-Nurzad. Auch der überstürzte Abzug der Truppen sei „fatal“ gewesen. „Mit der Evakuierung der Hilfskräfte hätte man bereits im April beginnen können, als klar war, dass das Militär Afghanistan verlässt und nicht erst auf den letzten Drücker.“ Es seien immer noch deutsche Staatsbürger vor Ort.
Afghanistan-Krise: Was ist gerade wichtig?
Der Appell von Zohra Soori-Nurzad an die deutsche Gesellschaft ist daher nun ein anderer. So dürfe man nur wegen der zurückgehenden Medienpräsenz nicht wegschauen. Die Leben der Menschen, die deutsche Behörden unterstützt haben, seien nach wie vor in großer Gefahr. „Viele, die den deutschen Staat bei seiner Arbeit in Afghanistan unterstützt haben, fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen“, berichtet die Aktivistin.
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Von der anfänglichen großen medialen Aufmerksamkeit sei nach fünf Wochen der Taliban Regierung nicht mehr viel übrig geblieben. Die Lage der Menschen vor Ort hätte sich nicht verbessert. „Ganz im Gegenteil: Durch die steigende Macht der Taliban ist es gerade für Frauen und Kinder noch gefährlicher geworden in Afghanistan“, betont die Aktivistin. Die Probleme seien unverändert. Ohne den medialen Fokus befürchtet Zohra Soori-Nurzad, dass sich die Lage unter den Taliban weiter verschlimmern könnte.
Hilferuf des Vereins Stitching for School and Life: Was hat der Hilferuf bewirkt?
Der letzte Hilferuf der Frauen vor Ort (wir berichteten) sei im Siegerland viel gehört worden. „Das Hilfegesuch ist aus Hilflosigkeit und dem Willen entstanden, die Frauen und Familien vor Ort zu unterstützen.“ Daraufhin hätten den Verein viele Hilfeangebote in Form von Wohnungsvorschlägen aber auch auch Sach- oder Geldspenden aus dem ganzen Siegerland erreicht.
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Der Postverteiler von SSL sei heiß gelaufen und das Feedback war „erschlagend“, berichtet Zohra Soori-Nurzad. „Für mich war gut zu sehen, dass wir nicht alleine für die Leben der afghanischen Hilfskräfte kämpfen. Es macht einfach Mut zu wissen, dass so viele unsere Arbeit für wichtig halten und uns unterstützen wollen.“
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