Olpe. Amirali (20) aus Afghanistan lebt seit 2016 in Olpe. Er sorgt sich um seinen Bruder, der auf einer Verräter-Liste der Taliban stehen könnte.
Amirali kämpft mit seinen Tränen. Er ist aufgewühlt und hilflos. „Was kann ich machen?“, fragt sich der 20-jährige Olper, der im Jahr 2016 als Flüchtling hierher kam. Ganz alleine und auf sich gestellt. Der junge, eigentlich so lebensfrohe und nette Kerl hat Todesangst.
Er bangt nicht um sein Leben, sondern um das seines Bruders, der in Afghanistan lebt. In dem Land, das Amirali seine Heimat nennt. Dort wurde er in einem kleinen Dorf vor 20 Jahren geboren. Dort verbrachte er 15 Jahre seines Lebens, ehe es ihn die Flucht trieb. Sein Bruder ist immer noch dort. Und steht vermutlich auf der Verräter-Liste der Taliban, die in den letzten Tagen die Macht faktisch an sich gerissen haben. Denn Amiralis Bruder – seinen Namen nennen wir nicht – hat für die afghanische Regierung gearbeitet. Er gilt als Verräter und hält sich an einem geheimen Ort versteckt.
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Eigentlich wollte Amirali seinen Bruder in Afghanistan besuchen. Doch dazu kam es nicht. Der junge Mann, der leidenschaftlich gerne Fußball spielt, sein Fachabi in Deutschland gemacht hat, aktuell in einem Café in Sondern arbeitet und im kommenden Jahr an der Uni Siegen Architektur studieren will, flog stattdessen in den Iran, wo seine Eltern mittlerweile leben. Von dort hat die Familie alles versucht, um den geliebten Bruder aus der Heimat rauszuholen. Ohne Erfolg. „Es ist so schrecklich, was in Afghanistan passiert. Es ist eine große Katastrophe“, sagt Amirali, der sich in kürzester Zeit in Olpe integriert hat und nahezu perfekt Deutsch spricht. Er weiß: „Die Bilder, die wir im Fernsehen sehen, zeigen nicht mal im Ansatz, wie schlimm die Situation wirklich ist.“
Dabei sind es genau diese Fernsehbilder, die uns im fernen Deutschland so sprachlos machen. Die Bilder von verzweifelten Afghanen, die sich an Flugzeuge hängen, um irgendwie das Land zu verlassen. Die Bilder von überrannten Flug- und Landebahnen. Von panisch schreienden Menschen, die Todesangst haben. Und diese Bilder, sagt Amirali, zeigen nur einen kleinen Teil der Realität. Seine Prognosen für die nächsten Tage, Wochen und Monate machen wenig Hoffnung – ganz im Gegenteil: „Ich fürchte, es wird noch schlimmer. Die Taliban sagen zwar, sie würden die Macht friedlich an sich reißen, aber das glaube ich nicht. Sie werden die Verräter in ihren Augen suchen.“ Und dann auch hinrichten.
Weg für die Taliban frei
„Ich habe einfach nur Angst um meinen Bruder. Es ist schrecklich“, lässt uns Amirali in sein Innenleben schauen. Das Wörtchen „schrecklich“ fällt oft im Gespräch. „Eigentlich mache ich mir schon seit Monaten Gedanken über diese Situation“, sagt der junge Mann, für den die Machtübernahme der Terroristen nicht mehr überraschend kam. Schon gar nicht, nachdem sich die deutschen und amerikanischen Truppen aus dem Land verabschiedet haben. Damit war der Weg für die Taliban zur Machtergreifung frei. Doch Amirali ist auch ein Kämpfer. Gemeinsam mit seinen Eltern wird er weiterhin alle möglichen Hebel in Bewegung setzen, um den geliebten Bruder aus Afghanistan zu holen.
Aus dem Land, das de facto seit dem Wochenende in Terroristenhand liegt. Aus dem Land, das Amirali seine Heimat nennt.