Siegen. Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen? Das lehnen viele Staaten trotz der Taliban ab. Eshag Jafari lebt in Siegen und wirbt für einen anderen Weg

Siegen ist für Eshag Jafari zur zweiten Heimat geworden. Der 25-Jährige wurde in Zentralafghanistan geboren. Als er 15 war, flüchtete seine Familie in den Iran. Vor fünfeinhalb Jahren kam Jafari allein nach Deutschland und besuchte erstmals in seinem Leben eine Schule. Er machte den Realabschluss und spricht heute perfekt Deutsch. Der Filialleiter in der Gastronomie verfolgt die Entwicklung in Afghanistan mit Sorge.

Befürchten Sie, dass Afghanistan nach dem Abzug der Nato-Truppen international in Vergessenheit gerät?

Eshag Jafari: Ja, leider. Afghanistan war auf einem guten Weg zu einer Demokratie. Die Taliban wollen das Rad komplett zurückdrehen. Wir Menschen, die in Frieden und Freiheit leben, dürfen jetzt nicht so tun, als gehe uns das nichts an. Freiheit gehört allen Menschen, wir müssen uns nur dafür einsetzen.

Haben Sie Kontakt in Ihr Heimatland? Was erfahren Sie von dort?

Ich habe regelmäßigen WhatsApp-Kontakt mit Freunden und Bekannten. Sie erzählen Schreckliches: Dass sie auf der Straße von Taliban-Kämpfern gefragt werden, ob es ihnen gut geht und ob sie zufrieden sind. Nur ein falsches Wort, und sie werden abgeknallt. Die Menschen leben aufgrund der angespannten Sicherheitslage in größter Angst, viele wollen so schnell wie möglich das Land verlassen.

Von den Taliban heißt es, dass sie die eigene Bevölkerung nicht verfolgen und insbesondere Frauenrechte respektieren wollen. Nehmen Sie ihnen diese Aussagen ab?

Das ist reine Propaganda. Die Taliban sind eine terroristische Gruppe, die in der Vergangenheit nicht gescheut hat, unschuldige Zivilisten umzubringen und Bomben auf Schulen zu werfen. Wie soll man ihnen da vertrauen?

Wie wird sich die Machtübernahme der Taliban auswirken?

Mein Land wird alle Errungenschaften seit dem Ende der Taliban-Herrschaft vor 25 Jahren wieder verlieren: Demokratie, Meinungsfreiheit, Frauenrechte und schulische Bildung. Wenn die Taliban behaupten, dass sie anders regieren werden als vor 25 Jahren, ist das eine große Lüge. Sie haben sich nicht verändert. Sie sind schulisch und kulturell nicht gebildet, sind weiter dem Irrglauben verfallen, man könne mit der Waffe in der Hand regieren. Ich befürchte, dass sich die Spirale der Gewalt auch angesichts der Konflikte mit Truppen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) immer schneller drehen wird, dass es zu wirtschaftlichen Problemen und einer Hungersnot kommen wird.

Die junge Bevölkerung, also Ihre Generation, kennt die Taliban nur aus Erzählungen. Wie reagieren sie auf die neue Lage?

Die jungen Leute haben fortschrittlich gelebt – man könnte auch sagen: normal – und bekommen jetzt mit, dass zum Beispiel Frauen von beruflichen und politischen Karrieren ausgeschlossen sind und eigentlich nur zu Hause bleiben sollen. Für sie ist das alles ein großer Schock. Und mir bereitet die Vorstellung großes Kopfzerbrechen, dass Afghanistan durch Verfolgung die künftige Elite verliert.

Wie haben Sie aus der Ferne die Rückkehr der Taliban erlebt?

Es ist für mich ein Alptraum, dass die Taliban innerhalb weniger Tage die Macht zurückerobern konnten. Ich habe noch keine Antwort auf die Frage gefunden, warum der Westen, die USA, 25 Jahre in Freiheit, Werte, Demokratie und Bildung in meinem Land investiert haben und jetzt die Bevölkerung im Stich lassen.

Wie sollte der Westen mit dem neuen Regime umgehen?

Es darf nicht anerkannt werden. Sonst wird nichts vom alten Afghanistan übrigbleiben. Von der Politik erwarte ich, dass durch Diplomatie die Sicherheitslage der Bevölkerung verbessert wird.

Wird es eine neue Flüchtlingswelle geben?

Wir haben alle die Bilder vom Flughafen in Kabul gesehen, wo unzählige Menschen versucht haben, bei Evakuierungsflügen außer Landes zu gelangen. Mich hat traurig gemacht zu sehen, wie viele zurückgelassen wurden. Ich kann nur an alle Europäer appellieren: Schließen Sie Flüchtlinge aus Afghanistan, die dort nicht mehr ihres Lebens sicher sind, in Ihr Herz und nehmen Sie diese in einem Akt der Menschlichkeit auf. Menschen müssen sich doch unabhängig von Sprache und Glaube gegenseitig helfen. Viele Flüchtlinge haben gesehen, wie ein geliebter Angehöriger vor ihren Augen getötet wurde, viele sind traumatisiert. Hören Sie bitte auf Menschen wie Kanzlerin Merkel: „Wir schaffen das!“ Flüchtlinge nehmen niemandem etwas weg. Ich kenne viele, die in Deutschland sehr gut integriert sind. Nehmen Sie auch gerne mich als Beispiel. Das gelang nur so gut, weil mir viele Menschen geholfen haben.

Ihre Eltern und drei Geschwister unter 20 Jahren leben seit ihrer Flucht im Iran. Machen Sie sich angesichts der neuen Konstellation in Afghanistan um sie Sorgen?

Ich habe Angst davor, dass der Iran eine Taliban-Regierung anerkennt und ein Abkommen abschließt, dass Flüchtlinge wie meine Geschwister zum Arbeiten zurück nach Afghanistan müssen. Das würde sie in höchste Gefahr bringen. Daher will ich meine Familie nach Deutschland holen.