Siegen. Netzwerk „Tacheles Siegen“ will dem wieder wachsenden Problem des Antisemitismus mit Bildungsarbeit begegnen. Denn es betreffe nicht nur Juden

Klartext sprechen: Das will das Netzwerk gegen Antisemitismus. Der Name „Tacheles“, abgeleitet vom jiddischen Wort „Tachles“, meint genau das. Die Eskalation des Nahostkonflikts führte zu Demonstrationen, bei denen Judenfeindlichkeit aufflammte. Antisemitische Vorfälle nehmen wieder zu in Deutschland.

Dagegen rief das Netzwerk am Freitag, 11. Juni, zu einer Kundgebung in Siegen auf – zusammen mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland, dem Aktiven Museum Südwestfalen und dem Kreisjugendring Siegen-Wittgenstein. Parallel plant „Tacheles“ Vorträge für junge Erwachsene. Die Kernfrage: Wie erkennt man die Grenze zwischen Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus?

Kundgebung in Siegen: Manche Teilnehmer im Vorfeld bedroht

Es sei erschreckend, wie salonfähig Antisemitismus wieder geworden sei, sagt ein Sprecher des Netzwerks, der aus Angst vor Anfeindungen – Rechtsextremisten verfolgen die Kundgebung am Rande – unbekannt bleiben möchte: „Der zieht sich durch alle gesellschaftlichen Gruppen.“ Die Kundgebung am Freitag entstand aus dem Bedürfnis heraus, dem etwas entgegenzusetzen. Mehr als 80 Menschen waren dem Aufruf gefolgt, sich vor dem Kreishaus zu versammeln.

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„Auch auf Siegener Straßen wird ‘Kindermörder Israel’ gerufen“, so der Sprecher; Menschen, die ihre Teilnahme an dieser Kundgebung im Netz öffentlich gemacht hatten, seien bedroht worden. „Jüdisches Leben ist nach wie vor in diesem Land gefährdet“, Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft verankert. Nicht zuletzt wegen der AfD, die „geschichtsrevisionistischen und rassistischen Müll“ von sich gebe. Der Großteil der politisch motivierten Straftaten in Deutschland werde von Rechten verübt; „Antisemitismus ist eine politische Haltung, die letztlich den Tod von Jüdinnen und Juden bedeutet.“ Redebeiträge kamen von allen Mitveranstaltern, auch von Landrätin Dr. Galit Shaul aus dem Partnerkreis Emek Hefer.

In Siegen nur eine Person, die sich traut, als jüdisch in Erscheinung zu treten

„Tacheles“ beschreibt der Sprecher des Netzwerks als eine wachsende, bunte Gruppe – von Mitgliedern des Jugendparlaments Siegen beispielsweise, oder von bereits Berufstätigen wie ihm. Kurz vor Corona gegründet, hätte es durch die Pandemie gedauert, sich zu formieren. So richtig losgegangen sei es erst nach den Raketenangriffen der Hamas auf Israel, „und mit den darauf folgenden Demonstrationen“ – aber auch schon davor hätten sie am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz mit Israelfahnen am Siegener Bahnhof gestanden. Auch Anfeindungen auf offener Straße hätten sie schon erlebt. „Die haben wir dann an RIAS gemeldet“, den Verein zur Erfassung antisemitischer Vorfälle.

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In Siegen kenne er nur eine Person in seinem persönlichen Umfeld, die offen jüdisch in Erscheinung trete. „Wir vom Netzwerk sind selbst nicht jüdisch, aber wir sehen die Gefährlichkeit dieser wahnhaften Ideologie des Antisemitismus.“ Vielerorts in Deutschland trauten sich Menschen nicht mit Kippa auf die Straße. Und doch könne man nicht sagen: „Das betrifft nur Juden und Jüdinnen“ – denn es greife unsere gesamte freiheitliche Gesellschaft an. „Antisemitismus entsteht nicht dadurch, was Juden tun, sondern durch eine komplett falsche Sicht auf die Welt.“

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Man müsse sich ja fragen, warum Demonstrationen vor einer Synagoge und nicht beispielsweise vor der Botschaft stattfänden. Wenn jemand sage: „Die Siedlungspolitik der israelischen Regierung empfinde ich als falsch“, sei das kein Problem. Doch wann wird es dann antisemitisch? Das Netzwerk bediene sich hier einer Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“. Er zählt sie auf, die „drei Ds“, an denen man auch seiner Meinung nach israelbezogenen Antisemitismus erkenne: Bei einer Dämonisierung Israels, wenn Doppelstandards an den Staat Israels angelegt werden – er also anders bewertet werde, als andere Staaten und wenn der Staat Israel delegitimiert werde.

Tacheles Siegen setzt auf anschauliche Bildungsarbeit für Jugendliche

Was abstrakt und theoretisch klingt, will das Netzwerk für Jugendliche anschaulich machen. In Deutschland werde viel Gedenkarbeit an den Holocaust geleistet. Auch in der Schulbildung werde aber noch zu wenig die Frage behandelt, was Antisemitismus im Kern bedeute und wie man ihn im Alltag erkenne, so seine Ansicht. Für „Tacheles“ sei es deshalb wichtig, „Jugendliche und junge Erwachsene dahingehend fit zu machen und ihnen zu helfen, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln.“ Unterstützt wird das Projekt vom Bundesfamilienministerium mit 2.500 Euro aus dem Jugendfonds von „Demokratie leben! Siegen“.

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Antisemitismus sei der Versuch einer Welterklärung, bei der Jüdinnen und Juden die Dinge aus dem Hintergrund steuerten. Da sei „sehr viel Verschwörungstheorie dabei, bei dem neuen Antisemitismus“. Jugendliche seien nahezu täglich damit konfrontiert, in Rap-Texten und Internet-Foren. Aktuell versuche das Netzwerk deshalb beispielsweise, den jüdischen Rapper Ben Salomo aus Berlin für einen der Vorträge zu gewinnen – damit dieser aus erster Hand über seine Antisemitismus-Erfahrungen im Hip-Hop berichten könne. Auch um Texte von Rappern wie „Kollegah“ oder „Farid Bang“ soll es gehen, die einen großen Einfluss auf Jugendliche hätten – von ihnen stammt die Zeile „Mein Körper ist definierter als der von Auschwitzinsassen“, der für große Empörung gesorgt hatte.

Facetten von Antisemitismus finde man genauso in anderen Bereichen – in der Fußballfankultur beispielsweise oder in der Esoterik. Auch um Antisemitismus im (queer)-Feminismus, in der Friedens- und Tierrechtsbewegung gehen soll es in weiteren Vorträgen gehen. Die genauen Termine werden noch bekannt gegeben. Das Netzwerk hofft, dass die Veranstaltungen bei weiter fallenden Inzidenzen in Präsenz stattfinden können, sagt das Netzwerkmitglied: „Uns ist die lebendige Debatte wichtig.“

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