Nuttlar/Meschede. Ute Wegener aus Bestwig wird an ALS sterben. Mit uns sprach sie über den Tod, Sterbehilfe und das, was bleibt: Die Liebe zu ihren Söhnen.

Auf der Klassenfahrt philosophierte Ute Wegener mit ihrem besten Kumpel über den Tod. Sie waren damals 18 Jahre alt, saßen Beine baumelnd in London mit einer Flasche Whiskey. „Wir stellten uns vor, dass der Tod ein Ort im Universum ist, wo alle Seelen friedlich zusammenleben“, sagt sie. Frieden als Geschenk, das der Himmel bereithält. Eine Idee, die Ute Wegener auch heute, vier Jahrzehnte später, noch gefällt.

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Ute Wegener aus Nuttlar ist an ALS erkrankt. Sie wünscht sich, dass die Menschen normal mit ihr umgehen.
Ute Wegener aus Nuttlar ist an ALS erkrankt. Sie wünscht sich, dass die Menschen normal mit ihr umgehen. © WP | Ilka Trudewind

Ute Wegener wird sterben. Wann, das weiß sie nicht. Nur woran. Im Sommer 2021 erhielt die Frau aus Nuttlar die Diagnose ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) – eine Krankheit, bei der Nervenzellen sterben, die für die Steuerung der Muskeln zuständig sind. Die Muskeln erhalten keine Befehle mehr. Der Körper fühlt sich an, als würde er Stück für Stück einfrieren.

Lallen und steife Finger

Es begann mit plötzlichem Lallen und steifen Fingern. Die Ursachen lauteten da zunächst „Psyche“ und „Karpaltunnel“. Seitdem schreitet die Krankheit voran. Die Überlebensprognose liegt bei ALS durchschnittlich bei drei bis fünf Jahren ab der Diagnose. Ute Wegener kann nicht mehr laufen und kaum noch sprechen, weil inzwischen auch Zunge und Zwerchfell zunehmend gelähmt sind. Auf Stress reagiert ihr Körper sofort, die Muskeln krampfen. Der Körper zieht sich zusammen. Ute Wegener kann nur wenig dagegen machen. Wenn sie längere Zeit und mit Mühe spricht, treten die Muskelstränge im Hals deutlich hervor. Immer wieder schließt sie die Augen, nimmt einen Zug Luft aus dem grauen Schlauch, der über ihrer linken Schulter hängt. Sie atmet tief, um sich und ihren Körper zu beruhigen. Immer wieder sagt sie innerlich dabei diese beiden Wörter:

Ich bin. Ich bin. Ich bin.

Wirkungsvolle Worte, denn Ute Wegener ist.

Gedanken zum Tod

Aufzugeben kam ihr nie in den Sinn: „Dann wäre das Leben ja sofort vorbei.“ Die Energie, die die 60-Jährige früher schon ausgestrahlt hat, ist heute genauso spürbar. Ihr Lächeln, ihre klugen Worte, ihr Humor. „Der Tod gehört hier zum Leben dazu. Wir sprechen ganz offen darüber.“ Sie möchte in einem Friedwald beerdigt werden. Genaueres hat sie noch nicht geplant. „Ich fühle mich noch lebendig und kenne den genauen Zeitpunkt ja nicht.“ Niemand kenne den Zeitpunkt seines Todes. „Drei gleichalte Bekannte sind in den letzten Monaten vor mir gegangen. Hätten sie wie ich gewusst, dass sie sterben, hätten sie vielleicht etwas anders gemacht. Vielleicht noch jemandem verziehen, hätten sich den einen Wunsch erfüllt, einmal Freiheit gespürt...“

Sohn gründete Assistenzdienst

Ute Wegeners Versorgung ist über das persönliche Budget und den Ruhrtaler Assistenzdienst abgedeckt, den Ute Wegener inspiriert und ihr Sohn Leon (20) gegründet hat. Die todkranke Frau hatte die Idee, so auch anderen helfen zu können. Oft landen Schwerstkranke aus Überforderung der Angehörigen im Pflegeheim. Mit Anfang 60 und bei klarem Verstand – das wollte sie nicht. Sieben Assistentinnen und ein Assistent betreuen sie nun abwechselnd rund um die Uhr. Der Kampf mit Behörden und Krankenkasse ist etwas, was sie weiter umtreibt. Immer wieder müsse sie nachweisen, dass sie wirklich krank sei. Besonders bitter: Wenn die Hilfen bewilligt sind, ist es für Ute Wegener oft zu spät, da die ALS fortschreitet.

Sterbehilfe in der Schweiz als Option

Ute Wegener aus Nuttlar (hier mit ihrem Hund Rusty) im Jahr 2021.
Ute Wegener aus Nuttlar (hier mit ihrem Hund Rusty) im Jahr 2021. © WP Meschede | Frank Selter

„Heute ertrage ich das, worüber ich vor einem Jahr noch gedacht habe: Wenn es mal so schlimm ist, will ich nicht mehr“, erklärt Ute Wegener. Angst vor dem Tod hatte sie nie, aber vor dem Sterben. „Ich werde ersticken“, sagt sie. Das Angebot der Sterbehilfe in der Schweiz war deshalb zunächst eine Option. Doch Ute Wegener informierte sich. Auf ihren Wunsch wird, wenn es nicht mehr geht, die Beatmung abgeschaltet, Morphin wird helfen, nicht im Kampf zu ersticken.

Gedanken auf Facebook

Auf Facebook schreibt sie als „etU renegeW“ über ihre Gefühle, über den Tod, über Menschen, die sie verletzt haben. Sie schreibt über die Liebe zu ihren Söhnen, über die sie ewig mit ihnen verbunden sein wird. Stundenlang sitzt sie abends in ihrem Sessel und tippt die Worte mit einem kleinen Stift in das Handy. „Das ist mein Vermächtnis“, sagt sie und lacht. Dass es ein bisschen wie eine Drohung klingt, ist Absicht. Diese Momente abends genießt sie. Gläschen Gin-Tonic, etwas Fernsehen. Wenn alles ruhig ist, der Körper nicht krampft. „Dann fühle ich mich normal und gesund“, sagt sie.

Rückblick auf das Leben

„Sterben macht frei“, davon ist Ute Wegener überzeugt. Sie sei gefangen in ihrem Körper, fühle sich aber frei im Geist. Freier als manch Gesunder. „Die Menschen schätzen sich selbst zu wenig wert. Sie sollten besser auf das hören, was sie im tiefsten Innern möchten.“ Das würde sie auch gern dem Mädchen Ute von damals sagen: „Was andere sagen, ist nicht wichtig, denn du bist. Und du bist gut, wie du bist!“

Ihr Leben sei nicht immer glatt gelaufen. Rückblickend würde sie aber alles wieder genauso machen. „Dadurch bin ich die, die ich heute bin. Ich hatte ein reiches Leben.“

Lied von Udo Lindenberg zu Trauerfeier

Auf ihrer Trauerfeier wird „Wieder genauso“ von Udo Lindenberg laufen. Ute Wegener sucht das Lied auf ihrem Handy. Die Playlist heißt „Beerdigung“. Am Tisch wird es still und Udo singt: „Wenn du heute noch mal anfangen könntest von vorn. Welchen anderen Weg hättest du vielleicht genommen? Welche Partys ausgelassen und welchen Fehler nicht gemacht? Ich hab kurz überlegt und dann gesagt: Ich würd’s wieder genauso tun, genauso, wie es war. Und es wär wieder genauso gut, genauso, ist doch klar.“

Hintergrund:

Der Ruhrtaler Assistenzdienst kümmert sich um Hilfsbedürftige, die ihr Leben mit einer persönlichen Assistenz wieder in die eigene Hand nehmen möchten (Freizeitassistenz, Schulassistenz, Arbeitsassistenz, Rollimobil, Alltagsassistenz).

Kontakt: Tel. 02904/1200. www.ruhrtaler-assistenzdienst.de

Dieser Artikel ist Teil unserer Tabu-Serie: Dort sprechen Menschen über Themen, über die man eigentlich nicht spricht. Bisher erschienen:

Sexueller Missbrauch: Vom Opfer zur Helferin

Mein Weg aus der Alkoholsucht

Mein Outing im Sauerland der 80er Jahre