Meschede. Volker Stratmann ist sicher: Rund 95 Prozent der Mescheder wissen, dass er schwul ist. Warum er für unsere Tabu-Serie trotzdem darüber spricht.
Muss man darüber überhaupt noch reden? Ist das nicht völlig normal? In der Gesellschaft akzeptiert? Und eigentlich Privatsache? Für unsere Serie “Tabu - über was man nicht spricht“ geht es heute ums Schwulsein.
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Volker Stratmann hat ein Schuh- und Bekleidungsgeschäft in Meschede. Das Angebot erstreckt sich laut Homepage „von namhaften Designerbrands, über angesagte Ready-to-wear-Labels, bis zu passenden Accessoires wie Taschen, Schals und vielem mehr.“ Volker Stratmann ist schwul, und er ist sicher, „dass das rund 95 Prozent der Mescheder sowieso wissen“.
Niemanden vor den Kopf stoßen
17 Jahre lebte er in einer Beziehung und ist aktuell wieder Single. Händchenhaltend mit seinem Freund durch die Stadt zu gehen, das habe er nie gemacht. „Das passt aber auch nicht zu mir.“ Vielleicht ist das auch eine Altersfrage, Volker Stratmann ist 60. „Ich würde das nicht machen, weil ich natürlich weiß, dass es Menschen gibt, die damit ein Problem haben. Die muss man ja nicht vor den Kopf stoßen.“
Coming-out mit 19
Der gebürtige Bestwiger war 19, so erinnert er sich, als er sein Coming-out hatte. Eigentlich unspektakulär, ohne große Worte. „Wir hatten damals mit der Familie eine Travestie-Show mit Mary und Gordy geguckt, die damit endete, dass die beiden „My Way“ von Frank Sinatra sangen und damit den Appell verbanden, dass jeder sein Leben so leben müsse, wie es zu ihm passt“, erinnert er sich. Den Moment habe er genutzt und sei anschließend zu einer Freundin gefahren. „Als ich zurückkam, haben meine Eltern gesagt, das sei ok. Irgendwie hätten sie es schon länger geahnt. Und das, obwohl ich bis dahin immer Beziehungen zu Frauen gehabt hatte.“
Aufgewachsen mit drei Geschwistern
Als später auch sein jüngerer Bruder sich outete, habe da schon keiner mehr darüber geredet. Peter, mit dem er zusammen das Schuhhaus Stratmann in Meschede und Lippstadt eröffnete, ist heute in Berlin verheiratet. Aufgewachsen ist Volker Stratmann mit ihm, seinem Bruder Frank und seiner Schwester Heike, die heute das Büro des Schuhhauses führt.
Aids stigmatisierte alle Schwule über Jahre
Er habe immer Freundinnen und Freunde gehabt, auch befreundete heterosexuelle und schwule Pärchen im Stammtisch, berichtet er. „Da war das nie ein Thema. Wir hatten einfach viel Spaß.“ Auch die Bundeswehrzeit überstand er ohne größere Probleme. Schwieriger war, dass zeitgleich mit seinem Coming-out auch Aids aufkam. Die Krankheit, die alle Schwulen über viele Jahre stigmatisierte.
Angst, dass er als schwuler Mann im Sauerland oder sonst wo angegriffen oder angefeindet wird, habe er nie gehabt. Klar, gebe es beim Schützenfest mit steigendem Alkoholpegel bis heute schon mal dumme Sprüche nach dem Motto: „Schwule kann ich eigentlich nicht leiden, aber du bist ganz nett.“ Das steckt er weg. Auch wenn ihm diese Art zuwider ist. Genauso wie er es ablehnt, offensichtlich heterosexuellen Männer anzumachen. „Diese Übergriffigkeit erleben, das will ja niemand, keine Frau von einem Mann und auch kein Mann von einem anderen.“
Offen schwul zu leben, sei heute normal
Schwul zu sein dagegen und das offen zu leben, findet er heute normal. „Ich würde allerdings nie jemand zu einem Outing zwingen. Da muss sich jeder auf sein Bauchgefühl verlassen.“ Stratmann sagt, er kenne Männer, die in einer heterosexuellen Beziehung leben und trotzdem immer wieder was mit Männern haben. „Das macht doch keinen der Beteiligten glücklich.“ Manch einer komme eben aus der selbst geschaffenen Fassade nicht mehr raus. „Vielleicht auch, weil er im Innersten Schwulsein als krank oder falsch empfindet.“
Volker Stratmann dagegen ist mit sich im Reinen. Er gebraucht bewusst das Wort „schwul“ und nicht „homosexuell“. „Homosexuell - das klingt so medizinisch.“ Mit mancher neuen Entwicklung, der Einordnung von „cis“ bis „non-binär“ oder „trans“ fremdelt er - wie viele andere. Bei jungen Leuten, die sagen, „Ich bin nicht schwul oder lesbisch, ich liebe einen Menschen“, vermutet er eher „eine schöne Illusion. Oder ein Zeichen, dass man sich noch eine Hintertür offenhält.“
Niemanden verletzen und junge Leute ermutigen
Doch er würde auch das nicht kommentieren, „ich will ja auch niemanden verletzen.“ Gleichzeitig ist er froh, dass das Internet bei seinem Coming-out noch kein Thema war. „Heute kann dich da ja jeder aus der Anonymität heraus übel beschimpfen.“
Und warum war er spontan bereit, mit der Zeitung über dieses Tabu-Thema zu reden: „Letztlich bleibt das jedem selbst überlassen. Aber ich würde mich freuen, wenn sich junge Leute dadurch ermutig fühlen, so zu leben und zu lieben, wie sie es wollen. Egal wie!“
Hintergrund
1889 begann Kaspar Stratmann in Bestwig mit einer Schuhmacherei. Anfang der 30er-Jahre übernahm Paul Stratmann den Betrieb, und seit den frühen 60ern führten Günter und Margret Stratmann die Regie. Zu dieser Zeit wurden die Schuhe noch mit einem kleinen Lieferwagen von Dorf zu Dorf gebracht.
Nach und nach wurde das Geschäft in Bestwig zur Hauptverkaufsstelle und ist heute noch die Zentrale des Unternehmens. Hier findet die Warenannahme und alles weitere hinter den Kulissen statt.
1986 eröffneten die Eltern mit ihren Söhnen Volker und Peter die erste Filiale in Meschede und 1990 die zweite in Lippstadt. Seit 2004 ist Volker Stratmann Geschäftsführer des Unternehmens.