Bockum/Arnsberg. Tatjana Michael (44) wuchs in Meschede auf. Als Kind wurde sie über Jahre sexuell missbraucht. Heute hilft sie anderen Frauen.
In unserer Tabu-Serie sprechen Menschen über persönliche Themen, über die andere eher schweigen. Manchmal auch, weil sie so fürchterlich sind wie die Erlebnisse, von denen uns Tatjana Michael berichtet hat. Sie wurde als Kind sexuell missbraucht. Tatjana Michael wuchs in Bockum auf und erlebte in dem Mescheder Ortsteil ihren persönlichen Horror. Das Martyrium begann als sie gerade einmal sechs Jahre alt war. Der Peiniger? Er gehörte zur entfernten Verwandtschaft.
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Erst Jahrzehnte später begriff die heute 44-Jährigen, was damals mit ihr geschehen war. „Ich dachte immer, ich sei nicht richtig.“ Sie konnte Gefühle und Nähe nicht zulassen, hatte Probleme, sich zu öffnen. Geriet deshalb auch an falsche Partner und in Abhängigkeiten. „Oft überkamen mich so starke Angstgefühle oder auch Wutanfälle. Ich konnte mir das nicht erklären.“ Irgendwann fasste sie den Mut und ging bei der Tagesklinik in Neheim vorbei. „Ich habe Angst vor meiner Angst, können Sie mir helfen?“, fragte sie. Tatjana Michael hatte Glück, weil sie sich direkt in Therapie begeben konnte.
„Da habe ich erst einmal verstanden, was damals mit mir passiert war“, sagt die 44-Jährige. Sie konnte die schemenhaften Erinnerungen zuordnen. Doch das Wahrhaben und Annehmen sei ein schmerzhafter Weg gewesen. „Es wird immer zu meinem Leben dazugehören. Aber ich habe nun gelernt, mich und meinen Körper zu lieben“, erzählt sie.
Doch die Alarmglocken schrillen manchmal noch sehr laut in ihrem Kopf. Vor allem, wenn es darum geht, ihre mittlerweile erwachsenen Töchter zu beschützen. „Ich habe gelernt, darin zu unterscheiden, was sind alte Gefühle und was ist eine reale Situation“, erklärt die Mutter.
Traumabewältigung
Sie geht in ihrer Traumabewältigung noch einen Schritt weiter, bildet sich zur psychologischen Beraterin weiter und gründet Selbsthilfegruppen in Arnsberg und Soest. Ihr Schwerpunkt liegt in Arbeit in der positiven Psychologie. Mehr als 50 Frauen, die Opfer sexueller und körperlicher Gewalt geworden sind, haben bisher das Angebot wahrgenommen. Die Frauen sind zwischen 18 und 65 Jahre alt. „Wir sprechen größtenteils über den Alltag. Es geht bei uns um das Hier und Jetzt, nicht um die therapeutische Traumabewältigung“, sagt Michael. Denn die Opfer können nur teilnehmen, wenn sie sich in Therapie befinden und der Psychologe die Teilnahme sinnvoll findet, aber auch wenn eine Therapie schon abgeschlossen ist, um weiter gestärkt zu bleiben.
„In der Gruppe sei es so, dass man so sein kann, wie man möchte. „Ohne das Gefühl zu haben, zu nerven, der besten Freundin oder den Eltern wieder mit der alten Leier zu kommen.“
Warum hat das Kind niemand geschützt
In der Therapie sagte man ihr: „So wie ich war, war es okay, denn ich konnte nicht anders sein.“ Doch was war mit der Familie, den Eltern? Warum konnte das Kind damals niemand schützen? „Mein Vater war Alkoholiker, meine Mutter war von ihren eigenen Ängsten gelähmt. Ich mache ihnen heute keine Vorwürfe mehr. Aber auch das war ein langer Weg.“ Und ihr Täter? Wurde er zur Rechenschaft gezogen? „Er ist über das Einwohnermeldeamt nicht mehr auffindbar. In der Familie heißt es, dass er tot sei.“
75 Prozent der Täter stammen aus der Familie oder dem nahen Umfeld
- Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet für das Jahr 2021 in Deutschland 15.507 durch die Polizei ausermittelte Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs. Bei rund drei Viertel der Fälle kommen die Täter aus der eigenen Familie oder dem sozialen Nahfeld. Es wird geschätzt, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse von sexueller Gewalt betroffen sind.
- Voraussetzung für die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe ist es, bereits eine Therapie in Anspruch genommen zu haben. Wer mitmachen möcht, meldet sich per Email (info@shg-selbstbestimmt.de) oder mobil (0152 254 823 58 Anruf, SMS, WhatsApp). Die AKIS im HSK – Arnsberger Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen im Hochsauerlandkreis gibt ebenfalls Auskunft:Tel.: 02932 201-2270,E-Mail: selbsthilfe@arnsberg.de
- Die Selbsthilfegruppe „selbstbestimmt“ hat ein Spendenkonto: DE18 4645 1012 0100 0745 25. Bisher erschienen in der Tabu-Serie:
- Mein Weg raus aus der Alkoholsucht
- Mein Outing im Sauerland der 90er Jahre