Hagen. . Am 1. September 1939 jährt sich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Dr. Ralf Blank ist wssenschaftlicher Leiter der historischen Museen und des Stadtarchivs und profunder Experte für diese Zeit.
Am 1. September 1939 jährt sich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Dr. Ralf Blank, Wissenschaftlicher Leiter der historischen Museen und des Stadtarchivs und profunder Experte für diese Zeit, hält dazu am Donnerstag, 4. September, um 18 Uhr einen Vortrag im Auditorium des Kunstquartiers.
Wie reagierte die Hagener Bevölkerung auf den Ausbruch des Krieges?
Dr. Ralf Blank: Das lässt sich nicht genau nachvollziehen, da aus Hagen zeitgenössische Quellen wie Tagebücher und Briefe zumindest mir bislang nicht bekannt sind. Solche Aufzeichnungen sind wichtig, um ein möglichst realistisches Bild fassen zu können. Aus den Berichten des Sicherheitsdienstes der SS wissen wir, dass sich die Begeisterung in Grenzen gehalten hat. Erst nach den militärischen Erfolgen der Wehrmacht in Polen stellte sich eine Siegesstimmung ein. Doch der Kriegseintritt von Frankreich und England wurde im September 1939 mit Besorgnis aufgenommen.
War Hagen eine Hochburg der Nationalsozialisten?
Blank: Hagen war nicht nur das „braune Hauptquartier“, wie der nationalsozialistische Oberbürgermeister Heinrich Vetter zu Beginn der NS-Herrschaft im April 1933 herausstellte. Die Stadt war auch ein bedeutender Standort der Rüstungsindustrie und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Was die Nationalsozialisten betraf, hatte Vetter die Stadtverwaltung und auch die Hagener Bevölkerung im Griff. Das ging so weit, dass er Ermittlungsverfahren der Justiz und Aufsichtsbehörde wegen diverser Vergehen, in die hohe Beamte und Parteifunktionäre verwickelt waren, bis zum Kriegsende verschleppen konnte. Hagen galt im Innenministerium als eine der Kommunen im Reich mit dem korruptesten Stadtregiment.
Gab es weitere wichtige Nazis in bzw. aus Hagen?
Blank: Eine ganze Reihe, ich nenne die beiden 1907 und 1908 in Hagen geborenen Juristen Dr. Walter Hammer und Dr. Wilhelm Altenloh. Sie stehen beispielhaft für junge Akademiker, die als leitende Beamte der Gestapo und des SD eine steile Karriere erlebten, um als Entscheidungsträger in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und Besatzungsverwaltung aktiv mitzuwirken. Oder den Hagener Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Römer, der ab 1935 für das Außenministerium geheimdienstlich tätig war, aber Ende 1941 im Zuge einer parteiinternen Säuberung seinen Einfluss verloren hatte. Und auch den 1900 in Hagen geborenen Dr. Hans Nieland, der 1940 zum Oberbürgermeister von Dresden ernannt wurde. Nach den verheerenden Luftangriffen im Februar 1945 verließ er nach einigen Tagen die Stadt. Georg von Detten, 1887 in Hagen geboren, wurde 1934 als SA-Führer im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch von seinen Parteigenossen ermordet. Ein biografisches Handbuch würde sicherlich noch einige mehr aufführen.
Welche Kriegsgüter wurden in Hagen produziert?
Blank: Neben diversen Zubehörteilen für Flugzeuge, Fahrzeuge und Waffen war die Hagener Stahlindustrie ein wichtiger Zulieferer für den Bau von Kampfpanzern. Bei Harkort & Eicken wurden seit 1938 Gehäuse für den Panzer III, seit Anfang 1943 dann für das Sturmgeschütz III sowie für den Kampfpanzer Panther gefertigt. Gut ein Drittel aller Spezialfedern für alle deutschen Kampfpanzer wurde bei Hoesch in Hohenlimburg gefertigt. Die beiden Betriebe der Gebrüder Ruberg in Delstern waren Hauptlieferanten für Bordwaffenlafetten für Jagdflugzeuge, ab 1944 einschließlich der Düsenjägers Me 262, und Munitionsgurten. Die Accumulatoren Fabrik lieferte Batterien für U-Boote und Torpedos, Bordsammler für Flugzeuge und ab 1943/44 auch Batterien für die Fernrakete V2. Ab 1943 fertigte die Stoffdruckerei Goecke & Sohn in Hohenlimburg rund 1/3 aller Heck- und Ruderanlagen für die Flugbombe V1. Das blieb nicht ohne Folgen, auch wenn die Alliierten längst nicht über alle Produkte aus Hagen informiert waren.
Inwiefern?
Blank: Am Ende des Zweiten Weltkriegs lagen die Innenstadt und die angrenzenden Stadtviertel fast vollständig in Trümmern. Mehr als 2000 Einwohner hatten bei den alliierten Luftangriffen den Tod gefunden, über 8000 Bürger waren im Krieg als Soldaten gefallen. Es klingt angesichts der Toten und Schäden fast makaber, aber es hätte noch schlimmer kommen können, wenn die Alliierten 1943/44 über das Ausmaß der Rüstungsproduktion vollständig informiert gewesen wären. Wie beispielsweise über die Beteiligung Hagener Firmen am Raketen-Programm. Ohne die Bordbatterien hätte die V2 nicht funktioniert.
Weiß man denn, wie viele Hagener als Soldaten am Krieg teilnahmen?
Blank: Das ist schwer zu sagen, weil die Unterlagen des Hagener Wehrbezirkskommandos 1945 vernichtet wurden. Ich denke, dass bis zu 35.000 Hagener für den Wehrdienst erfasst wurden.
Gab es in Hagen Zwangsarbeiter?
Blank: Ja, sehr viele sogar. Vom Historischen Centrum Hagen haben wir vor einigen Jahren eine biografische Datenbank erstellt, die über 35.000 Namen von Zwangsarbeitern enthält, die zwischen 1939 bis 1945 in Hagen eingesetzt waren. Die Hagener Gestapo richtete in Hagen und in ihrem Bezirk ab Herbst 1943 eigene Straflager für Zwangsarbeiter ein. Über den Einsatz von Zwangsarbeitern in Hagen gibt es ja eine fundierte Studie der Ruhruni Bochum.
Wie sah der Alltag in Hagen während des Krieges aus?
Blank: Ab 1943 bestimmte der Luftkrieg immer mehr den Kriegsalltag. Gegen Kriegsende gab es kaum eine ruhige Stunde, zudem wurde die Stadt seit Herbst 1943 häufig von schweren Bombenangriffen getroffen.
Wie gingen die Hagener nach dem Krieg mit der Vergangenheit um?
Blank: Im repräsentativen Hagener Rathaus an der Volme hängt heute neben dem Eingang zum Sitzungssaal ein großes Relief aus Bronze. Es konfrontiert die Volksvertreter und Bürger auf ihrem Weg in das Kommunalparlament mit einem Abschnitt der Stadtgeschichte. Das Kunstwerk trägt den Titel „Die zerstörte Stadt 1945“ und wurde im Jahre 1965 durch den Bildhauer Heinrich Holthaus für den Vorgängerbau des heutigen Rathauses an der Volme geschaffen. Auf der anderen Seite wurde 1956 ein „Heldenbuch“ für die Opfer des Zweiten Weltkriegs herausgegeben. Dieser Band lehnte sich stilistisch und von seiner Aufmachung an das 1936 herausgegebene „Heldenbuch“ an. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Zweiten Weltkrieg war in Hagen ambivalent. Als das neue Rathaus 1965 eingeweiht wurde, es stand ja für den Abschluss des Wiederaufbaues der zerstörten Innenstadt, fand im Hagener Landgericht fast zeitgleich der Prozess gegen die Führungsmannschaft des Vernichtungslagers Sobibor statt. Den Schlussstrich, den sich 1952 der Richter am Landgericht am Ende eines Prozesses gegen Hagener Gestapo-Angehörige wünschte, hat es bis heute nicht gegeben. Und das ist auch gut so.
Gigantische Zerstörungen und 70 Millionen Tote
Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst. Auf den Kriegsschauplätzen in Europa und Asien entstanden gigantische Zerstörungen.
Zum Kriegsende im Mai 1945 hatten weltweit bis zu 70 Millionen Menschen den Tod gefunden. Die politischen und mentalen Auswirkungen des Krieges sind auch noch 75 Jahre nach seinem Ausbruch spürbar.
Und wie stellt sich die Situation heute dar?
Blank: Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg wird heute weitaus weniger von Verdrängen bestimmt. Das ist sicherlich auch eine Generationsfolge, da wir als Nachgeborene von den Ereignissen nicht direkt betroffen sind. Es passt vielleicht nicht ganz, wenn ich sage, der Umgang ist ungezwungener und offener. Umso schlimmer sind dann aber auch die Erkenntnisse über das Funktionieren eines totalitären Regimes und die Folgen einer solchen Gewaltherrschaft. Das immer noch aufkommende Gerede von „Tabubrüchen“ ist natürlich Unsinn. Welche Tabus sollten denn gebrochen werden, zumindest in den meisten Familien gab es überlieferungsgeschichtlich keine Tabus.
Ist die Epoche des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in Hagen gut erforscht?
Blank: Grundsätzlich kann das positiv beantwortet werden. Allerdings gibt es immer noch Bereiche, die sich genaueren Untersuchungen entziehen oder aber recht aufwändig sind. Ich denke dabei an biografische Untersuchungen zur unteren und mittleren Führungsebene der Partei und ihrer Gliederungen in Hagen. Wichtig ist auch eine für Schulen nutzbare und umfassende didaktische Darstellung. In vielen Städten sind NS-Dokumentationszentren entstanden, gerade in Hagen würde sich eine solche Einrichtung aufgrund der dichten Überlieferung und des historischen Hintergrunds anbieten.