Hagen. Das Landgericht verhandelt wegen Mordes gegen einen 92-Jährigen Breckerfelder. Das Verfahren ist vielleicht der letzte, aber lange nicht der erste Kriegsverbrecherprozess in Hagen.

Das Bild mag Mitleid erregen: Er schiebt seinen Rollator an jedem Prozesstag in den Gerichtssaal. Mord – so lautet der Vorwurf, den die Staatsanwaltschaft gegen den Mann aus Breckerfeld erhebt. Nach ihrem Willen soll ein 92-Jähriger verurteilt werden für ein Verbrechen, das er vor 69 Jahren begangen hat.

Geschichte gerät in das Bewusstsein

Während der Angeklagte zu den Vorwürfen schweigt, wird er in niederländischen Zeitungen als „Biest“ bezeichnet. Unsere Leser diskutieren über die Frage nach dem Sinn eines solchen Prozesses. Für Dr. Ralf Blank, Leiter des Fachdienstes Wissenschaft, Museen und Archive, steht der außer Frage: „Es geht ganz gewiss nicht darum, einen 92-Jährigen hinter Gitter zu bringen“, sagt der Historiker, der einen Lehrauftrag an der Ruhruniversität Bochum hat und zu dessen Spezialgebieten die Zeit des Nationalsozialismus zählt, „aber durch diesen Prozess gerät Geschichte in das öffentliche Bewusstsein. Diese Verhandlung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime und den Folgen. Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus ragen wie ein rostiger Nagel in die Nachkriegsgeschichte hinein.“

Kriegsverbrecher-Prozesse haben am Landgericht Hagen eine lange Tradition. „Seit den 50er Jahren gibt es sie immer wieder“, so Blank. „Die Argumentation gegen eine solche gerichtliche Aufarbeitung hat es schon immer gegeben“, so Blank, „man müsse endlich einen Schlussstrich ziehen und das Vergangene ruhen lassen, ist so eine oft bemühte Floskel. Später hieß es, man könne doch keine Mordprozesse gegen 70-Jährige führen. Heute sind es 90-Jährige, die man einem Verfahren nicht mehr aussetzen solle. Dabei muss man bedenken, dass die Täter auch vor Greisen keinen Halt machten.“

Zum Tode verurteilt

Bereits 1946 wurden die Mitglieder eines Gestapo-Kommandos in Iserlohn zum Tode verurteilt, die noch im April 1945 auf Befehl eines SS-Obersturmführers einen kanadischen Flieger erschossen hatten. Später wurden sie begnadigt, 1952 der Erste von ihnen aus der Haft entlassen.

Wegen Totschlags in fünf Fällen wurde ein SS-Angehöriger 1957 vom Schwurgericht zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nachdem der Bundesgerichtshof dieses Urteil aufgehoben hatte und weitere Verfahren gegen den Angeklagten Paul Th. eingeleitet wurden, wurde drei Jahre später erneut verhandelt. 14 Tage dauerte der Prozess, zu dem zahlreiche zumeist jüdische Zeugen aus dem Ausland anreisten. Der SS-Mann gehörte zum Führungspersonal verschiedener Lager in Galizien, in denen Einheimische lebten, die im Straßenbau eingesetzt wurden. Wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen in 26 Fällen wurde er schließlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Sobibor-Prozess

Länger als ein Jahr – von September 1965 bis Dezember 1966 – dauerte der sogenannte Sobibor-Prozess. Mord und Beihilfe zum Mord an bis zu 150.000 Menschen lautete der Vorwurf gegen zwölf Angeklagte. Einem wurden zusätzlich neun weitere Morde zur Last gelegt. Lebenslange und mehrjährige Freiheitsstrafen gegen sechs Angeklagte waren das Resultat, fünf Angeklagte wurden freigesprochen. Einer der Angeklagten erhängte sich kurz vor Ende der Beweisaufnahme in seiner Zelle.

Von der Öffentlichkeit wurde der Prozess kaum wahrgenommen. Die Zuschauerplätze im Saal 201 waren laut einem Artikel der Wochenzeitschrift Die Zeit leer. Der Name Sobibor war vielen Hagenern kein Begriff. Ein Student hatte Passanten befragt. Eine Hausfrau tippte auf ein Waschmittel.

Erneut verhandelt

Der Hauptangeklagte erreichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. So wurde von 1982 bis 1985 erneut vor dem Schwurgericht verhandelt. Wegen acht der ihm vorgeworfenen Einzelmorde wurde er freigesprochen. Ansonsten blieb es bei dem Urteil aus dem Jahr 1966.

Verurteilt wurden auch zwei Angeklagte, die mehrere Mordtaten in den Jahren 1941 und 1942 im Nebenlager Gusen des österreichischen Konzentrationslagers Mauthausen begangen hatten. Sie waren beteiligt an grausamen „Totbadeaktionen“, bei denen bis zu 300 Häftlinge kaltem Wasser unter hohem Druck ausgesetzt wurden. Sie starben sofort oder ertranken in dem Wasser, das sich im Betonbecken sammelte.

Erneut auf der Anklagebank

Auch Siert B. musste sich bereits vor dem Landgericht verantworten. 1980 war er wegen Beihilfe zum Mord an zwei jüdischen Brüdern zu sieben Jahren Haft verurteilt worden.