Hagen. Die Hagener Philharmoniker verbinden im „Faust“-Projekt Stummfilm und Musik. Das Publikum feiert spannende Brückenschläge zwischen den Genres — und bedankt sich bei den Philharmonikern mit langen Bravo-Rufen für ein Konzert mit altem Film und neuer Filmmusik.

Gerade im Zeitalter des 3-D-Kinos erleben Stummfilme mit Livemusik eine Renaissance. Viele Orchester haben sie inzwischen auf dem Programm, und auch in Hagen feiert das Publikum die Philharmoniker mit langen Bravo-Rufen für ein Sinfoniekonzert mit Friedrich Wilhelm Murnaus „Faust“ von 1926 und der neuen Filmmusik von Bernd Wilden. Einziger Wermutstropfen: Die Großbildleinwand in der Stadthalle ist doch ziemlich klein.

Die frühen Kino-Dirigenten waren unglaublich fähige Musiker. Aus ihren Notensammlungen, die 4000 Stücke umfassen konnten, haben sie anhand von Handlungs- und Stimmungslisten innerhalb kürzester Zeit Begleitklänge für die aktuellen Stummfilme geschaffen. Vom Stehgeiger über den Klavierspieler bis zum Salonorchester ist in den Lichtspieltheatern alles vertreten, und die Filmpaläste der Metropolen leisten sich sogar eigene riesige Sinfonieorchester.

Bernd Wilden, früher am Theater Hagen engagiert, ist ein solch begabter Komponist in der großen Tradition der Kinokapellmeister. Er hat sich auf Film spezialisiert und nicht nur eine spannende Partitur zum „Faust“ geschrieben, sondern sie auch mit dem Hagener Orchester großartig interpretiert – was eine echte Kunst für sich ist.

Denn jede Live-Musik zum Film steht vor einem Problem: der Synchronisation von Leinwand und Orchester. Der Film spult sich unerbittlich ab, Musiker aber atmen, sie sind keine Maschinen; die musikalische Zeit ist nie deckungsgleich mit der mechanischen. Bernd Wilden hat entsprechend einen Film-Monitor auf seinem Dirigentenpult, und er komponiert in seine Partitur eigens Fermaten (Haltezeichen) ein, an denen er das Orchester im Ernstfall wieder einsammeln kann.

Seltsame Treppen und Perspektiven

Murnau gelingt mit seinem „Faust“ ein expressionistisches Meisterwerk. Die Geschichte um den Teufelspakt und das unglückliche Gretchen wird in einer Architektur erzählt, die aus seltsamen Treppen, verzerrten Perspektiven und dunklen Winkeln besteht. In den Schatten lauert stets das Böse.

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Aber wie klingt das Böse? Ein Geräusch, so als würde eine Totenhand an Glas kratzen, fahl, wispernd und beängstigend durchdringend. Nur selten wird es eingesetzt, dann jedoch kriecht die Angst den Nacken hoch. Der Effekt entsteht, wenn man ein Becken mit einem Triangelstab reibt. Bernd Wilden hat viele solcher Kunstgriffe im Repertoire, die Stimmungen sofort illustrieren können. Seine Musik ist ein Nachtstück, sie spiegelt die Hell-Dunkel-Kontraste der Szene, die auf die Clair-obscur-Techniken der alten Malerei zurückgehen.

Die orchestralen Farben bleiben stets gedeckt, Kontrafagott und Bassklarinette kommen zum Einsatz, selbst die burleske Jahrmarktszene wird abgetönt, denn jetzt bricht im Film die Pest aus.

Grüße an den Fliegenden Holländer

Wilden erzählt die Geschichte musikalisch auf mehreren Ebenen. Die Pauken pochen einen trostlosen Trauermarsch, während endlose Leichenzüge durch die Straßen ziehen. Das ganze Orchester heult und pfeift wie der höllische Wind selbst, als Faust Mephisto beschwört, und der Schneesturm peitscht in den Instrumenten, wenn Gretchen mit ihrem erfrierenden Kind am Heiligen Abend keine Herberge findet. Tiefer geht die Gefühls-Ebene. Zartes Streicherfugato begleitet Fausts Versuch, Tote zum Leben zu erwecken. Und erst mit Gretchen finden die helleren Töne Einzug in das Klangbild, die Flöte zum Beispiel.

Natürlich zitiert Wilden in bester Filmmusiktradition berühmte Komponisten, etwa Richard Wagner, dessen Fliegendem Holländer er mit der Luftreise von Mephisto und Faust ein virtuoses Gegenstück zur Seite gesellt. Gretchens Lied „Es war ein König in Thule“ taucht wie ein Leitmotiv an Schlüsselszenen ausschließlich im Orchester auf – und ist stets eine Todesahnung.

Den wunderbarsten Effekt erzielt allerdings die Koppelung dieser instrumentalen Mittel und Techniken mit dem Part des vielseitigen, klangstarken Philharmonischen Chors. Wie aufregend und sprachmächtig ist es doch, wenn plötzlich Live-Stimmen in einer Filmmusik singen. Vom Kirchenlied bis zum grandiosen Schluss über das Wort Liebe verleiht der Chor der Komposition eine unvergleichliche zusätzliche Präsenz.