Hagen. . Das Scratch-Projekt der Hagener Philharmoniker ist ein Abenteuer. Begeisterte Sänger reisen von weither an, um Faurés Requiem an einem einzigen Tag einzustudieren und abends aufzuführen. Insgesamt 230 Teilnehmer wollten die ergreifenden Stücke erarbeiten und vorführen.
Einmal Sopran sein. Einmal in den höchsten Tönen strahlen, statt auf „dis“ „cis“ und „des“ in zwei Takten hintereinander herumzugurken! Doch solche Neurosen krähender Altistinnen gehen beim Scratch-Projekt der Hagener Philharmoniker in einem grandiosen Gemeinschaftsgefühl unter. Denn Scratch ist eines der letzten Abenteuer: An einem einzigen Tag studieren begeisterte Sängerinnen und Sänger ein Chorwerk ein und führen es abends auf. Das gibt es fast nur in Hagen.
Da Fastenzeit ist, hat der Hagener GMD Florian Ludwig das Requiem von Gabriel Fauré auf den Scratch-Plan gesetzt - und dazu das wunderschöne französische Morgengebet „Cantique de Jean Racine“. 230 Teilnehmer wollen die beiden ergreifenden Stücke erarbeiten. Das sind etwa halb so viele wie im vergangenen Jahr, als rund 500 Kehlen mit den größten Hits der Popgeschichte das Dach der Stadthalle zum Beben brachten. Entsprechend dünner gesät ist das Publikum beim Konzert. Aber der Fauré ist schließlich kein Stoff für Sing-Laien. Fast alle Teilnehmer haben Chorerfahrung und freuen sich, ein derart anspruchsvolles Werk zu proben.
Glücksgefühle und Aussetzer
Da GMD Florian Ludwig kurzfristig verhindert wurde, muss sein Stellvertreter David Marlow den Scratch-Chor 2014 bändigen. Hagens Erster Kapellmeister ist ein Fachmann für Stimmen, er war Leiter des WDR-Rundfunkchors und ist bei den Bayreuther Festspielen als Assistent von Andris Nelsons unter Vertrag.
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Natürlich hat der junge Dirigent nicht jene genialen Sprüche drauf, für die Florian Ludwig in ganz Südwestfalen berühmt ist, und natürlich ist er noch ein bisschen zu scheu, um das Bad in der Menge zu suchen. Aber Marlow weiß, wie er Sänger in Form bringt, und er behält die Ruhe – sogar als der Alt in der Generalprobe beim Offertorium das erleidet, was man beschönigend mit Totalaussetzer beschreiben könnte. „Lieber beherzt mal falsch singen“, rät Marlow zu Gelassenheit.
Der Komponist Gabriel Fauré malt beim Requiem mit raffinierten Harmonien beinahe überirdische Hell-Dunkel-Farbschattierungen. Es geht um Trauer und Glaubenszuversicht, nicht darum, mit dem eigenen Gebrüll die Toten wieder aufzuwecken. „Leise ist viel schwerer zu singen als laut“, macht Marlow Mut.
"Es ist schwer, doch es ist zu schaffen"
Alle Altersgruppen sind vertreten, Familien mit Kindern, Freundinnen oder Teams aus anderen Chören der Region. Viele kommen einfach ohne Begleitung. Denn beim Scratch bleibt keiner allein. Aus Düsseldorf reisen die Teilnehmer an, aus Potsdam und Emden ebenso wie aus Frankfurt, Bad Berleburg, Brilon, Arnsberg, Dortmund, Hemer und Herdecke.
Else Stiehl kommt aus Bonn, und zwar zum neunten Mal in Folge. Seit 2006 hat die Altistin kein Scratch-Projekt verpasst. „Die Organisation funktioniert hervorragend. Ich liebe es, dass ein philharmonisches Orchester mit uns spielt, und wir haben gute Solisten wie Sopranistin Christina Piccardi und Bariton Raymond Ayers. Das ist großer Stil“, lobt Elsa Stiehl. Im nächsten Jahr wird die Sängerin 80. Dann will sie wieder zum Scratch fahren: „Die zehn möchte ich auf jeden Fall schaffen.“
230 Sänger beim Scratch-Projekt
Bei der Hauptprobe am Vormittag sind wir stolz: Es ist schwer, doch es ist zu schaffen. Bei der Generalprobe kommt dann das böse Erwachen. Mit Orchester wird die Sache viel gefährlicher. Das Hauptproblem des Singens im Chor besteht ja bekanntlich darin, dass man zusammen anfängt und gemeinsam wieder aufhört. Wir im Alt verlegen uns mitunter auf eine Art unfreiwilliger Arbeitsteilung. Die einen treffen den Einsatz, die anderen den Ton.
Gänsehaut pur
„Mit einem Profiorchester zu singen, das ist Gänsehaut pur“, genießt Elke Springob das Projekt. Die 45-jährige Attendornerin ist in der Downtown Bigband und bei den „Choryfeen“ Drolshagen aktiv: „Scratch ist eine Erfahrung, die ich wieder machen möchte.“
Jetzt wird es ernst. Wie von Zauberhand klappt trotz wackeliger Knie beim Konzert (fast) alles. Die Tenöre platzieren ihre Kantilene auf „Requiem aeternam“ sauber, der Bass schafft den rhythmisch schwierigen Solo-Einsatz beim Cantique, ohne zu stolpern. Die Soprane jubeln in „In paradisum“ mit dem Chorus angelorum um die Wette, und wir Alte sorgen für die stimmige Harmonie. Viel zu schnell ist der Auftritt vorbei. Keine Zugabe. Schade. Ein Requiem ist eben keine Jubelarie. Tiefe Rührung und Glücksgefühle: Der Scratch-Chor 2014 hat etwas Großes geschaffen. Und dabei festgestellt, wie viele interessante Leute singen, wie aus Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, singend eine Gemeinschaft wird.
Volkslieder stehen am 30. Mai 2015 beim Hagener Scratch-Projekt auf dem Programm. Mit dabei ist eine bekannte A-cappella-Band. Anmeldungen: 02331 / 2073257.