Hagen. Die Stadt hat fast eine Milliarde Euro Schulden. Aber wie fing das genau an? Und wann? Was ist der Grund für das Finanz-Desaster. Die Erklärung.

Diese Stadt ist verschuldet bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Knapp 900 Millionen Euro Kassenkredite. Geld, das die Stadt, vereinfacht gesagt, benötigt, um im laufenden Geschäft flüssig zu bleiben. Die Fachleute sprechen von „liquiden Mitteln“. Und daneben 70 Millionen Euro Investitionskredite. Also jene, mit denen die Stadt in ihre Infrastruktur investieren kann. Straßen oder Schulen zum Beispiel. Berichterstattung dazu gibt es jedes Jahr aufs Neue. Die Lage wird – trotz heftiger Sparbemühungen – als aussichtslos beschrieben. Nur ein Altschuldenschnitt kann der Stadt jemals wieder diese Fesseln ablegen. Aber wieso eigentlich ist Hagen so hoch verschuldet? Wo kommt das her? Wer trägt die Schuld? Wann genau hat das angefangen?

Sechster Stock im Verwaltungshochhaus. Büro von Christoph Gerbersmann, Kämmerer dieser Stadt. Der wohl am wenigsten zu beneidende Kassenwart einer Kommune in NRW. „Gutes Thema“ fand er vorab. Er ist es gewohnt, sich jede Menge angebliche Begründungen um die Ohren hauen zu lassen, warum Hagen so hohe Schulden hat. Die meistgehörte darunter: der Derivate-Deal, das Zinswetten-Desaster. 45 Millionen sind dabei über den Jordan gegangen. Als „extrem schmerzhaft“ beschreibt Gerbersmann dieses Kapitel, für das er nicht die Verantwortung trägt. Er ist seit 2005 Kämmerer. Die Verträge wurden knapp vor seiner Zeit abgeschlossen.

Archivbild aus dem Jahr 2007: Der inzwischen verstorbene Spar-Mentor Prof. Dr. Stefan Bajohr (links) und Christoph Gerbersmann (rechts), damals als Kämmerer gerade zwei Jahre im Amt.  Der damals freigestellte Landesbedienstete Bajohr war nach Hagen bestellt worden, weil die Stadt kurz vor der Insolvenz stand.
Archivbild aus dem Jahr 2007: Der inzwischen verstorbene Spar-Mentor Prof. Dr. Stefan Bajohr (links) und Christoph Gerbersmann (rechts), damals als Kämmerer gerade zwei Jahre im Amt. Der damals freigestellte Landesbedienstete Bajohr war nach Hagen bestellt worden, weil die Stadt kurz vor der Insolvenz stand. © WP | SIEKMANN, Marco

Verbockte Zockerei

Gerbersmann blickt aus zwei Winkeln auf die verbockte Zockerei. „Zum einen kann ich sagen, dass die Verantwortlichen das nicht getan haben, weil sie Bock auf Zocken hatten, sondern weil die Gemeindeprüfungsanstalt damals auch zu einem aktiven Zinsmanagement geraten hat und weil man versucht hat, Zinslasten in Hagen runterzukriegen.“ Am Anfang ging das gut, man war erfolgreich damit. Dann platzte alles. „Ich muss die Sache aber auch in die Gesamtschuldenlage einordnen. Wir hatten zum damaligen Zeitpunkt schon ein Jahresdefizit von 100 Millionen – pro Jahr. In diesem Kontext und über die danach folgenden Jahre muss man die verlorenen 45 Millionen Euro sehen. Und angesichts einer Milliarde Euro Gesamtverbindlichkeiten. Das kann also im Verhältnis zur Gesamtsituation nicht der Grund für die Misere sein.“

Wenn die Derivate also nicht der Grund für die Schuldenexplosion sind, was ist dann passiert? Der verstorbene Rudolf Pesch (CDU) war der letzte Kämmerer dieser Stadt, der Ende der 80er-Jahre ein positives Jahresergebnis vorweisen konnte. Aber war er so ein Finanz-Zauberer? Nein. Pesch und Kollegen begannen auch schon Probleme zu verzeichnen, die in den 90er-Jahren noch schlimmer wurden. „Ich habe Rudolf mal danach gefragt. Er begründete das mit der Ausgliederung der gebührenrechnenden Einrichtungen Abwasser und Abfall in den 90er-Jahren.“

Das Ende der Lohnsummensteuer

Über kalkulatorische Zinsen (Anm.: Zinsen, die man erwirtschaftet hätte, wenn man Eigenkapital in den Kapitalmarkt und nicht in den Betrieb investiert hätte) flossen laufend Überschüsse in den Haushalt. Seit der Ausgliederung aber nicht mehr. „Für Rudolf Pesch war aber ausschlaggebender die Abschaffung der Lohnsummensteuer.“ Das war eine Steuer auf die Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Sie wurde Anfang des Jahres 1980 gekippt. „Hagen war eine arbeitsplatzintensive Stadt zu diesem Zeitpunkt und die Steuer war neben der Gewerbesteuer sehr lukrativ“, sagt Gerbersmann. „Das ist aber nur ein, nicht der Hauptgrund.“

31. August 2008: Der ehemalige Stadtdirektor Rudolf Pesch (rechts) mit der einstigen FDP-Politikerin und heutigen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke. Funcke verstarb 2012, Pesch im Jahr 2022. Er war der letzte Kämmerer, der in Hagen ein positives Haushaltsergebnis vorweisen konnte.
31. August 2008: Der ehemalige Stadtdirektor Rudolf Pesch (rechts) mit der einstigen FDP-Politikerin und heutigen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke. Funcke verstarb 2012, Pesch im Jahr 2022. Er war der letzte Kämmerer, der in Hagen ein positives Haushaltsergebnis vorweisen konnte. © WP Michael Kleinrensing | KLEINRENSING, Michael

Dass die Wirtschaft in der Stadt immer schwächer wird, ganze Industriezweige verschwinden, spüren die Oberen auch in den darauffolgenden 90er-Jahren. Dass die Stadt dort noch nicht in den Schuldensumpf abrutscht, verdankt sie der Aktivierung von Vermögen. Man gründet die „GIV“. Die Gesellschaft für Immobilien und aktive Vermögensnutzung. Damit verkauft die Stadt den Großteil ihrer Wohnungen an die Wohnungsgesellschaft. Es wird jede Menge Geld frei. Hagen verkauft auch sein Kanalnetz an den Wirtschaftsbetrieb. So rettet sich Hagen phasenweise finanziell mit hohen dreistelligen Millionenbeträgen und kann so Defizite vermeiden. Noch.

Das Jahr 2000

Hagens Schuldenberg stammt nicht aus weit zurückliegender Vergangenheit. Die Schulden-Tektonik beginnt im Jahr 2000. Die sogenannte „Steuerreform 2000“ – das ist nicht nur die Hagener Sicht, sondern auch eine bundesweite und wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung – belastet die Kommunen immens. „Neben den unmittelbaren Mindereinnahmen beim Gemeindeanteil an der Einkommensteuer treten bei den Kommunen auch Einnahmeverluste im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs auf“, hat die Justus-Liebig-Universität in Gießen beispielsweise in einem finanzwissenschaftlichen Arbeitspapier herausgestellt. Auch die Gewerbesteuer leidet. Nur sechs Jahre später fehlen den Kommunen schon rund sechs Milliarden Euro Gewerbesteuern. Fast 70 Milliarden durch die Reform insgesamt.

„Dazu schrumpft die Stadt. Wir waren nach der Eingemeindung Hohenlimburgs mal 220.000 Leute. Immer weniger Leute müssen die Infrastruktur bezahlen“, sagt Christoph Gerbersmann. Durch den sich weiter verschärfenden Strukturwandel steigt die Arbeitslosigkeit, der Bund überträgt weitere Aufgaben im Sozialbereich auf die Kommunen, die die auch bezahlen sollen. „Die Jahre Anfang der 2000er haben uns das Genick gebrochen“, sagt der Kämmerer. Hagen hat binnen vier, fünf Jahren plötzlich ein Haushaltsdefizit von 140 Millionen Euro – jedes Jahr. Zehn Jahre später ist die Milliarden-Grenze bei den Verbindlichkeiten erreicht.

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42 Millionen Euro Zinsen pro Jahr

Aus den hohen Defiziten und den genannten Effekten sei in Hagen ein Schneeball-Effekt entstanden, der kaum aufgehalten werden konnte, erklärt Gerbersmann. Allein 2008 zahlte die Stadt 43 Millionen Euro Zinsen. „Aktuell zahlen wir 20 Millionen und finden das schon viel“, so Gerbersmann. Im Hintergrund drückte auch der „Soli“, den Hagen sogar kreditfinanzieren musste, die Hagener Kasse und ist bis heute für 20 Prozent der Schulden verantwortlich.

„Das war unaufhaltsam. Man brauchte Erlöse, um Zinsen zu tilgen“, sagt Gerbersmann, in dessen gesamte Amtszeit der Schuldenanstieg zeitlich fällt. Als ein Spar-Mentor in Hagen eingesetzt werden muss, errechnet die Kämmerei unter anderem, was jährlich durch die deutsche Wiedervereinigung und weitere neue auf die Kommunen übertragene Aufgaben auf Hagen einprasselt. „Zu dem Zeitpunkt 40 Millionen Euro pro Jahr“, so der Kämmerer.

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Eine Milliarde zwischenzeitig geknackt

2008 stehen die Kassenkredite bei 800 Millionen Euro, steigen in der Folge sogar auf 1,2 Milliarden Euro an, liegen jetzt stabil bei 900 Millionen Euro. Die Gewerbesteuer stieg wieder an, die Zinsen blieben zeitweise niedrig. „Und bis 2016 haben wir Stärkungspaktmittel erhalten“, so Gerbersmann über eine Phase relativer Stabilität. „Wir hätten schon Anfang der 2000er-Jahre Hilfe bei den Altschulden gebraucht. Nicht nur wir. Jeder Großstadt um uns herum ist es so ergangen wie uns.“ Und aktuell drücken die Stadt nun auch noch Themen wie die Zuwanderung, was die Soziallasten wieder steigen lässt und der Versuch, Kita- und OGS-Plätze zu bauen, weil hier ab 2025 ein Rechtsanspruch besteht. „Gute Sache, aber auch auf unserem Rücken“, sagt Christoph Gerbersmann.