Hagen. Kriminelle Jugendbanden in Hagen – nach der Definition der Polizei gibt es die nicht. Warum viele Menschen in der Stadt das anders sehen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da spazierte der Innenminister von Nordrhein-Westfalen durch Hagen. Es war kein Spaziergang im eigentlichen Sinne, den Hebert Reul (CDU) da unternahm. Es war einer, der einen eher traurigen Hintergrund hatte. Wiederholt waren Altenhagen und die Alleestraße zum Start des neuen Jahres in die Schlagzeilen geraten. In der letzten Silvesternacht war die Situation derart eskaliert, dass die Bilder aus dem Hagener Stadtteil bundesweit im TV ausgestrahlt wurden.
Der Minister hatte da mit Blick auf ausufernde Gewalt und Kriminalität durch Jugendliche und junge Erwachsene unter anderem dies gesagt: „Das ist ein Problem der jungen Menschen – Männer in Gruppen und jung. Warum knallen die durch und holen das Messer raus? Wir haben es nicht geschafft, dass die verstehen, dass man hier kein Messer braucht.“ Jetzt gibt es aus demselben Ministerium diese Antwort, die Reul gegengezeichnet hat: „Der Kreispolizeibehörde Hagen sind (...) keine verfestigten Gruppen junger Täterinnen und Täter bekannt.“
Polizei: keine marodierenden Banden in Hagen
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Mit einfachen Worten: Es gibt in der Stadt nach Ansicht der Polizei keine marodierenden Jugendbanden. Was zumindest im krassen Gegensatz zum Namen einer Ermittlungskommission steht, den sich die Polizei selbst ausgedacht hat. Die „EK Gang“ (Gang ist der englische Begriff für Bande) wurde 2022 als Erfolgsgeschichte gefeiert: Sie hatte einer Serie von Raubüberfällen, die Jugendliche und Heranwachsende in unterschiedlichen Konstellationen verübt hatten, aufgeklärt. Ihre Opfer waren vorzugsweise Besucher einer Disco, die sich nachts auf den Weg durch die Innenstadt in Richtung Bahnhof aufgemacht hatten. „Die Täter sind mit einer erschreckenden Brutalität vorgegangen“, hatte Kriminaldirektor Guido Liedke Ende Februar erklärt.
Das NRW-Innenministerium wiederum hatte sich jetzt noch einmal ausführlich zum Thema „Marodierende Jugendbanden in Hagen“ geäußert, weil die beiden Hagener Landtagsabgeordneten Ina Blumenthal und Wolfgang Jörg (beide SPD) eine Anfrage an die Landesregierung gestellt hatten. „Wir wollen damit einen sachlichen Beitrag leisten“, erklärt Wolfgang Jörg, „es ist niemandem damit geholfen, einzelne Stadtteile wie Altenhagen oder Wehringhausen pauschal zu kriminalisieren. Wir müssen einfach wissen, wo die tatsächlichen Probleme liegen.“
Städte wie Hagen nicht ausreichend unterstützt
Gleichzeitig fügt Jörg hinzu: „Das, was in der Silvesternacht passiert ist, kann niemandem gefallen. Wir können nicht einfach zusehen, wir müssen etwas tun.“ Deshalb habe sich auf seine Initiative eine Gruppe von Abgeordneten und Verwaltungsmitarbeitern aus Kommunen zusammengefunden, in denen – wie in Hagen – der Anteil der Migranten (insbesondere aus Südosteuropa) besonders hoch sei.
„Bei den Treffen“, sagt Jörg, „ist eines schnell klar geworden: Die Unterstützung für die Städte durch Land und Bund reicht lange nicht aus. Wir müssen uns fragen, was wir brauchen, um Integration zu ermöglichen. Und wenn man sieht, dass in Hagen allein hunderte Kita-Plätze sowie 444 OGS-Plätze fehlen, liegt zumindest eine Antwort auf der Hand. Denn diese Plätze fehlen vor allem in Quartieren, in denen die Zahl der Migranten besonders hoch ist. Und da muss man sich nicht wundern, wenn in den Schulen Kinder sitzen, die schon mehrere Jahre hier leben, der deutschen Sprache aber nicht mächtig sind. Wir verschlechtern dadurch die Startbedingungen für hunderte Menschen und reproduzieren unsere Problemlagen.“
Straftaten in Hagen erreichen Zehnjahreshoch
Problemlagen, die – die Banden-Frage mal außen vor – sich in der Kriminalitätsstatistik widerspiegeln. Die Anzahl der Straftaten hat 2022 in Hagen (bei vielfältigen Ursachen) mit 18.224 ein Zehnjahreshoch erreicht. Gleiches gilt für die Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren: 1835. Immerhin: Zumindest im Zusammenhang mit Straßenkriminalität zählen nur 265 Menschen unter 21 Jahren zu den Tatverdächtigen. Der Rekord liegt bei 318 im Jahr 2017.
Der Hagener Trend spiegelt sich zumindest nicht in allen vergleichbaren NRW-Kommunen wider. So ist beispielsweise in Gelsenkirchen zuletzt auch die Zahl der Straftaten mit Auslaufen der Corona-Pandemie wieder gestiegen, hat aber längst nicht das Rekordniveau aus 2015 erreicht. Gleiches gilt für Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren – beispielsweise in Krefeld oder Mönchengladbach: hat zugenommen, aber nicht auf Rekordniveau.
Minister Reul kommt erneut nach Hagen
Und der Minister? Der kommt in der nächsten Woche erneut nach Hagen. Nicht zu einem erneuten Spaziergang durch Altenhagen, sondern zu einer Veranstaltung der Polizei, bei der das Thema Kriminalität durch Jugendliche bestimmt eine Rolle spielt.