Altenhagen. Auf Einladung der WP kam NRW-Innenminister Herbert Reul in die Alleestraße. Seine ehrliche Beschreibung der Situation und mögliche Lösungen.

Als einer der Personenschützer in der Alleestraße in Altenhagen eine Mülltonne streift und sie vor dem Umfallen bewahrt, erlaubt sich Herbert Reul einen Witz. „Vorsichtig mit den Dingern. Die sind hier ein schwieriges Thema.“ In der Silvesternacht dienten solche Tonnen hier als Straßenbarrikaden. Sie brannten. Die Bilder aus dem Hagener Stadtteil gingen durch ganz Deutschland. 41 Tage später folgt der NRW-Innenminister einer Einladung der WP-Stadtredaktion Hagen zu einem Gespräch vor Ort. Um 10.49 Uhr am Freitagmorgen steigt er aus der Limousine. Und geht los Richtung Friedensplatz. (Lesen Sie auch: Silvester-Krawalle in der Alleestraße – Die Bürger zeigen sich entsetzt)

„Das wäre dummes Zeugs“

Der 70-Jährige hat sich in der breiten Bevölkerung Kredit erarbeitet. Er faselt nicht. Keine Dampf-Plauderei, kein verkopftes Schwadronieren. Er sagt oft, was ist. Nicht immer präsentiert er Lösungen. Auch heute nicht. „Das wäre dummes Zeugs“, sagt Reul, dem in der zugigen Häuserschlucht der Alleestraße die Augen tränen und der sich in der Kälte den Mantelkragen an den Hals drückt. „Kommen wir mal direkt zum Punkt“, sagt er. „Als Politiker kann ich ihnen hier nicht versprechen, dass wir diese Ansammlung an Problemen gelöst kriegen. Wenn so ein Brennpunkt einmal entstanden ist, kriegt man das ganz schwer wieder gedreht.“ (Lesen Sie auch: Hagens Gewalt bei Markus Lanz – „Nicht immer die Araber-Karte ziehen“)

Der Bezirksbeamte Stefan Otto (rechts) führt Herbert Reul durch die Friedensstraße.
Der Bezirksbeamte Stefan Otto (rechts) führt Herbert Reul durch die Friedensstraße. © Michael Kleinrensing

Dass er „Brennpunkt“ sagt, ist interessant. Das tun seine Untergebenen nicht. Die Hagener Polizei hatte die Silvester-Randale öffentlich versachlicht, wenn man will: objektiviert. Das ist nichts Vertuschendes oder Schlimmes, sondern, aus Sicht der Polizei, an Statistik orientierte Polizeiarbeit. Oft war auch von einer „Macht der Bilder“ die Rede, die dem objektiven Geschehen konträr gegenüberstehe. Reul schlägt einen anderen Ton an. „Das Gefühl der Leute ist nicht von Statistiken abhängig. Das ist doch unser großes Problem. Auch wenn sich die Kriminalitätsstatistik positiv entwickelt. Diese Bilder hier, die bleiben hängen und erzeugen ein subjektives Sicherheitsgefühl.“

Spaziergang durch Altenhagen. Innenminister Herbert Reul hatte Wort gehalten und war der WP-Einladung nach Hagen gefolgt.
Spaziergang durch Altenhagen. Innenminister Herbert Reul hatte Wort gehalten und war der WP-Einladung nach Hagen gefolgt. © WP | Michael Kleinrensing

Lohnen sich Anzeigen noch?

Überhaupt bleibe am Beispiel der Alleestraße mal wieder die berühmte Frage im Raum stehen: Lohnen sich Anzeigen eigentlich und werden deshalb viel weniger gestellt? Es ist eine in der öffentlichen Debatte bislang kaum diskutierte Dimension, die eigentlich noch vor der Zuwanderungs- und Migrantendebatte geführt werden sollte. „Da ärgere ich mich doch auch drüber“, redet Reul das Thema nicht weg. „Warum soll ich jemanden anzeigen, wenn er am Ende nicht verurteilt wird? Oder wir diskutieren über Schnellverfahren. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, den Rechtsstaat zu würdigen und alles genau gegenchecken zu lassen.“

NRW-Innenminister Herbert Reul im Gespräch mit Café-Betreiberin Fotini Michailidou.  
NRW-Innenminister Herbert Reul im Gespräch mit Café-Betreiberin Fotini Michailidou.   © Michael Kleinrensing

Reul bringt eine alte Idee neu ins Spiel. Das „Haus des Jugendrechts“. Ein ständiger runder Tisch mit Justizministerium, Innenministerium, Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe. „Schnell zusammensetzen, zügig urteilen, aber nur im Jugendrecht“, sagt Reul. Denn Reul betont: „Jung, männlich, in der Gruppe“, diese Täterkreis-Merkmale würden immer häufiger auftauchen. „Wir müssen in deren Köpfe. Wir haben es viel zu lange verpasst, denen klar zu machen, dass man bei uns kein Messer braucht.“

Reul: „Der OB hat recht“

Hagens Oberbürgermeister Erik O. Schulz hatte in dieser Zeitung jüngst ziemlich direkt erklärt, dass Hagen der Zuwanderung und ihren Folgen allein nicht mehr gewachsen sei. „Verstehe ich“, sagt Herbert Reul, „ich teile das. Wir müssen hier über viele Dinge sprechen. Wie organisieren wir Abschiebung? Was ist über das Themenfeld Bebauung möglich, auch Sauberkeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Aber indem wir uns das immer nur erzählen, löst man keine Probleme. Ganz klar ist aber: Hagen schafft das nicht mehr alleine ohne Hilfe von Land, mehr aber noch vom Bund.“

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Rein in die Köpfe, er sagt das gleich mehrfach. Ist das jetzt doch der Gang aufs Parkett der Plattitüden, Herr Reul? „Weiß ich, klingt so allgemein und nichtssagend. Das ist aber der Weg. Ich will nicht immer nur nach Sozialarbeit oder sowas rufen, aber trotzdem ist hier wichtig: je mehr, desto besser.“ Dass die Stadt Milliardenschulden vor sich herschiebt, weiß er wohl. Dass der NRW-Haushalt ebenfalls „angespannt“ sei, weiß er auch. Merkt er auch mit Blick auf Einstellungen bei seiner Polizei. Gleichzeitig lässt er von 12.000 Bewerbern 9000 ablehnen. „Weil ich keine schlechten mehr haben will“, sagt er. Ja, Qualität ist die eine Seite. Das Geld die andere. Auch in Reuls Ressort.

Die Hoffnungsschimmer

Café Cúpa, heißt der kleine Laden von Fotini Michailidou an der Alleestraße. Mitten in der Pandemie hatte sie aufgemacht. Unterstützt durch die ganze Familie und die Nachbarn im Viertel. Reul geht rein zu ihr. „Sie sind eine Geschichte, die mir gefällt“, sagt er. Die 29-Jährige versprüht Optimismus, sagt selbstbewusst, dass sie hier herkomme und dass dies ihr Viertel sei. Reul ernennt sie schnell zum Hoffnungsschimmer. Genau wie das Lädchen von „Kunst vor Ort“ nebenan oder den jungen Syrer, der ihn anspricht, weil er ein Foto mit ihm will. Perfektes Deutsch, höfliches Auftreten, sieben Jahre hier – nicht einen Tag durfte er aus mehreren Gründen eine Schule besuchen. „Das ist doch eigentlich auch ein Unding“, sagt Herbert Reul. Er könnte das mit an den Kabinettstisch nehmen.

Rein in die Köpfe also, dranbleiben, je mehr desto besser. Puh. Wenig und oft gehört. Was positiv stimmt: Reul sagt, er will dranbleiben. Und immer wenn er das getan hat, war das so. „Es war wichtig, das hier noch mal selbst zu sehen. Ich nehme den Besuch als Baustelle mit, an der ich noch nicht alles fertig habe.“ Im April kommt er wieder. Besuch im Polizeipräsidium. Fortsetzung? Kann folgen.

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NRW-Innenminister Herbert Reul zu Besuch in der Friedensstraße. Dort verschaffte sich der Ministern noch einen Eindruck vom Friedensplatz.
NRW-Innenminister Herbert Reul zu Besuch in der Friedensstraße. Dort verschaffte sich der Ministern noch einen Eindruck vom Friedensplatz. © WP | Michael Kleinrensing

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