Hagen. Beim Thema Zuwanderung hat sich Alt-OB Dietmar Thieser einst weit aus dem Fenster gelehnt. Seine 30 Jahre alte Mahnung hat bis heute Gültigkeit.
„Das Maß ist voll – ich bin es leid!“ Mit diesen klaren Worten reagierte der Oberbürgermeister auf die ungebremste Zuwanderung nach Hagen, die immer wieder zu Konflikten und massivem Unmut in der Bevölkerung führe. Allerdings stammt dieses Zitat nicht etwa vom amtierenden Verwaltungschef Erik O. Schulz. Vielmehr brachte Alt-OB Dietmar Thieser (SPD) mit dieser Aussage vor exakt 30 Jahren die sich zuspitzende Situation und Stimmung entlang der Volme auf den Punkt und erntete für seine unverblümte Einschätzung reichlich Kritik, Populismus-Verdächtigungen, aber vor allem auch Schulterklopfen quer durch die Republik und die politischen Lager.
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„Ich bereue nichts und würde es heute wieder so machen“, blickt der heute 70-Jährige aus ähnlicher Perspektive auf die aktuellen sozialen, von Gewaltausbrüchen begleiteten Verwerfungen in Hagen, die in der jüngsten Silvesternacht mal wieder die Stadtgesellschaft erschütterten. Entsprechend unterstützt er auch die Einschätzung seines heutigen Amtskollegen Schulz, der – wenn auch etwas diplomatischer verpackt – zuletzt ebenfalls ich Richtung Land und Bund signalisierte, dass diese Stadt nicht länger mit dem anhaltenden Zuwanderungs- und Flüchtlingsstrom alleingelassen werden dürfte.
Probleme in den Schulen
„Leider steht man bis heute sofort in der rechten Ecke, wenn man die Problemlagen offen anspricht“, macht Thieser als Genosse kein Hehl daraus, dass er selbst die holzschnittartigen Ursachenanalysen von CDU-Chef Friedrich Merz zu den Silvesterkrawallen in weiten Teilen unterschreiben kann: „Wir müssen nicht immer darüber diskutieren, was man sich wünscht, sondern offen sagen, was ist“, fordert der Ex-OB heute mit deutlich weniger wallendem Blutdruck weiterhin eine ehrliche Debatte ein: „Berlin und Düsseldorf müssen sich entscheiden, ob sie länger eine Einwanderungspolitik betreiben möchten, ohne denen, die sie umsetzen müssen, dafür die ausreichenden Mittel zu Verfügung zu stellen.“ Der Hasper empfiehlt, beispielsweise den Fokus auf die Schulen zu richten: „Leider äußern sich die Lehrer ja nicht öffentlich zu dem, was sich in unserem Bildungssystem tatsächlich so abspielt“, fordert Ratsherr Thieser, dass beispielsweise endlich die Mittel für mehr Pädagogen und Schulsozialarbeiter zur Verfügung gestellt werden.
Ein kurzer Rückblick: Bereits vor 30 Jahren strömten täglich bis zu 50 Zuwanderer pro Tag nach Hagen. Als die Bezirksregierung im Frühjahr obendrein weitere 1069 Asylanten sowie 1140 Aussiedler avisierte, platzte OB Thieser in Abstimmung mit seiner SPD-Fraktion und Oberstadtdirektor Dietrich Freudenberger kontrolliert der Kragen, um den öffentlichen Druck auf Bund und Land zu erhöhen. Sein Antrieb damals war neben steigenden Kriminalitäts- und Drogendeliktszahlen in der Stadt vor allem die drohende Zumutung, den Bürgern für weitere Unterbringungen bis zu 20 Turnhallen wegnehmen zu müssen.
Zeltstadt in Halden
Dabei gab es seinerzeit aus der Wohnraumnot heraus (Hagen hatte noch 212.000 Einwohner und beherbergte 2000 Asylsuchende aus 50 Ländern) schon eine eingezäunte und mit Flutlichtstrahlern illuminierte Zeltstadt in Halden, in der vorzugsweise Sinti- und Roma-Familien unter unwürdigen Zuständen lebten. Hinzu kamen seinerzeit viele Russland-Aussiedler, die nach jeder Sozialhilfeauszahlung mit Alkohol-Exzessen rund um Boele auffielen.
Grenzen erreicht
Vor dem Hintergrund der jüngsten Silvester-Krawalle in Altenhagen hatte der amtierende Hagener Oberbürgermeister Erik O. Schulz deutlich gemacht, dass Hagen allein der nicht enden wollenden Zuwanderung kaum mehr gewachsen sei.
Die Stadt sei zwar in der Lage, die Zuwanderungs- und Flüchtlingsbewegungen zu organisieren, aber sie werde das nicht dauerhaft alleine schaffen.
Daher müsse seitens des Bundes und des Landes vorzugsweise bei der Integration der Menschen deutlich mehr Unterstützung kommen, so die Forderung von Schulz.
Die Politik verabschiedete im April 1993 – begleitet von Demonstranten vor dem Rathaus und reichlich Medienvertretern auf den Zuschauerbänken des Sitzungssaals – mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP eine bundesweit beachtete Resolution mit einem Dreiklang: 1. Die Aufnahmekapazitäten in Hagen sind erschöpft, 2. Turnhallen sind niemandem zuzumuten, 3. Verwaltung soll weiteren Zuzug verhindern. Ein Beschluss, der Thieser in weiten Teilen der Bürgerschaft kurzzeitig zum Volkshelden werden ließ und ihm bundesweite Resonanz im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ sowie Aufmerksamkeit in diversen TV-Formaten verschaffte.
„Damit hatte ich erreicht, was ich wollte – die Debatte in Bund und Land kam wieder in Gang“, erzählt Thieser heute aber auch von nächtlichen Drohanrufen und Schmierereien an seinem Zuhause. Die Hagener Grünen erkannten in dem Beschluss einen „Aufruf zum Rechtsbruch“ und kritisierten das „populistische Gerede in Stammtisch-Marnier“. Die Grünen-Ratsfrau Hildegund Kingreen meinte, diese „ausländerfeindlichen Parolen sind politische Brandstiftung“, und ihr Parteifreund im Landtag, Roland Appel, formulierte seinerzeit: „Rechts von Thieser steht nur noch die Wand.“ Prompt tauchten ausländerfeindliche Flugblätter in Hagen auf, in denen vor „russischen Deserteuren, die saufen und randalieren“, vor „Negern, die dealen“ und vor „Zigeunern, die stehlen wie die Raben“, gewarnt wurde. Eine überreizte Stimmung abseits aller tolerablen Zwischentöne überlagerte schnell den politischen Hilferuf.
Sozialer Frieden in Gefahr
Damals wie heute sieht der Hasper Ratsherr eine Gefahr für den sozialen Frieden in der Stadt. „Wir dürfen nicht länger die Zuwanderung nach Deutschland propagieren, ohne die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Der Unmut in der Bevölkerung steigt – die Bürger machen das nicht mehr alles mit. Wenn wir die Probleme nicht ansprechen, dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn die Menschen zu denen gehen, dies es machen“, warnt der Genosse, der seinerzeit im Rat auch Applaus von den Republikanern erntete, heute mit Blick auf die Schlicht-Parolen AfD.
Daher sei es geboten, nach den Silvester-Ereignissen die Situation ehrlich aufzuarbeiten: „Wir müssen Sozialarbeit, Polizei, Kirche und Schulen besser vernetzen“, sieht Thieser nicht bloß den Integrationsrat in der Pflicht. Vielmehr müsse die gesamte Politik sich der Thematik nach der erneuten Silvester-Erfahrung mit der gebotenen Ernsthaftigkeit widmen. „Parallel sind unsere Abgeordneten gefordert“, sieht der Ex-OB – damals wie heute – das Land und den Bund in der Pflicht: „Hagen kann die Probleme allein nicht lösen, nur ausbaden.“