Hagen. Windräder, Neubauten, Stromleitungen – immer wieder wehren sich in Hagen Bürger gegen Projekte. Ein Experte erklärt, was dahinter steckt.
Aufmüpfig wird er, der Bürger. Er protestiert. Meist nicht mit Plakaten auf der Straße. Manchmal trotzdem öffentlich – in dieser Zeitung. Manchmal im Stillen. In Briefen und im Notfall mit juristischer Unterstützung. Was dazu führt, dass Stadtentwicklung und Projekte ins Stocken geraten können. Die beiden Windräder auf dem Rafflenbeuler Kopf sind das jüngste Beispiel. Gegen die in Hohenlimburg regt sich der Widerstand schon lange. Gleiches gilt für ein Feuerwehrgerätehaus in Halden, für den Abriss eines Häuserblocks in Wehringhausen oder die Erweiterung des Sanitätshauses Riepe. Über das Protest-Phänomen sprach unsere Zeitung mit dem Soziologen Prof. Frank Hillebrandt von der Fernuniversität Hagen.
Gibt es eine neue Protestkultur?
Hillebrandt: Den Protest in all seinen Formen haben die Menschen über Jahre und Jahrzehnte eingeübt. Im Grunde genommen beginnt dieser Prozess in den 60er-Jahren. Bürger trauen sich, gegen die Obrigkeit zu argumentieren. So etwas war in den 50er-Jahren nahezu undenkbar. Heute handelt es sich selten um gruppenspezifische Proteste. Es geht um Themen. Die Fridays-for-Future-Bewegung ist dafür ein gutes Beispiel.
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Nehmen wir das Beispiel Windräder – wie sollten Investoren reagieren?
Im Grunde genommen muss man von Beginn an Beteiligungsformen anbieten. Das schafft eine andere Haltung. Damit kann so ein Windkraftprojekt zur eigenen Sache werden. Wenn es sich einmal als fremd, als bedrohlich etabliert und man erst im Nachhinein versucht, Projekte zu legitimieren und eine Teilhabe anzubieten, vergibt man eine Chance.
Überzeugen denn solche Angebote die Betroffenen?
Wenn es sich nicht um Scheinbeteiligungen, sondern um ernst gemeinte Angebote handelt, ja. Das macht vieles einfacher. Wobei Konflikte ja nicht schlecht sein müssen, wenn sie eine progressive Formen annehmen. Das ist übrigens auch eine Perspektive für Politik in einer Kommune.
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Wie schwer tun sich Investoren?
Es gibt ja durchaus alternative ökonomische Ansätze, die sich auch mehr und mehr etablieren. Menschen mitentscheiden zu lassen – das ist in vielen Milieus bereits eingeübt. Wenn Investoren allerdings finanzgetrieben sind, wird es schwierig. Dabei ist ein solches Handeln nachhaltig betrachtet nicht wirtschaftlicher. Die meisten Menschen haben ein gutes Anliegen. Sie beobachten das eigene Umfeld sehr genau. Im Grunde ist das eine positive Entwicklung.
Also ist es sinnvoll, Menschen auch dann mit einzubeziehen, wenn man es formal vielleicht gar nicht muss?
Ja. Stadtplaner und Investoren sollten immer genau gucken: Wer lebt eigentlich dort, wo ein Projekt verwirklicht werden soll? Denn Anwohner wissen mehr über ihr Umfeld als Entscheider, die von oben auf einen Stadtplan gucken. Dieses Wissen ist unheimlich wertvoll. Man sollte es sehr ernst nehmen. Man muss mehr Zutrauen in die Fähigkeiten der Betroffenen haben. Deren Rolle wird wirtschaftlich unterschätzt.
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Wo lauern denn Fallen?
Man darf nicht versuchen, die Menschen zu manipulieren. Ich warne vor Pseudobeteiligungen. Davor, so zu tun, als ob man an der Meinung vor Ort noch interessiert sei, obwohl eine Entscheidung längst gefallen ist. Dann ist es besser, gar nicht erst zu versuchen, Betroffene mit ins Boot zu holen.
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Ist es denn in jedem Fall möglich, unterschiedliche Interessen in Einklang zu bringen?
Das muss man ja gar nicht. Man muss aushalten, dass es unterschiedliche Ansichten und Blickwinkel gibt. Man muss dabei nur aufrichtig und ehrlich bleiben. Es kommt darauf an, zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln. Politiker trauen sich das häufig nicht. Wenn etwas schiefläuft – was durchaus passieren kann – fürchten sie um ihre Wiederwahl. Dabei wäre eine Vermittlung ihre Aufgabe. In meinem Heimatdorf Mettingen gibt es eine Bürgermeisterin, die das ausgezeichnet versteht. Und siehe da – als SPD-Kandidatin hat sie bei der letzten Wahl im eher schwarzen Münsterland 60 Prozent geholt.
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All das hört sich ja gut an – aber setzen sich nicht am Ende immer wirtschaftliche Interessen durch?
Bleiben wir bei dem Windkraftbeispiel. Da will ein Investor natürlich Gewinne erzielen. Aber das darf man nicht überschätzen. In diesem Fall geht es auch um die Versorgung von Menschen. Wenn Unternehmen auch „gute“ Ziele verfolgen, führt das in der Regel auch dauerhaft zu einem „guten“ Ergebnis. Das ist völlig legitim. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man es darauf anlegt, kurzfristig Kapital anzulegen, zu zocken.
Also erfordert das ein Umdenken im Bereich der Wirtschaft?
Man darf nicht nur auf die wenigen Großkonzerne blicken, die häufig in den Nachrichtensendungen vorkommen. Ich glaube, dass ein Umdenken in vielen Wirtschaftsbereichen längst stattgefunden hat. Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir aus der neoliberalen Falle herauskommen. Friedrich Merz ist da ein Fossil, was sich am Ende nicht mal in der CDU durchgesetzt hat. Das hat etwas vom letzten Kampf des alten, weißen Mannes. Ich bin grundoptimistisch, denke, dass es schon sehr viel mehr alternative Ökonomie gibt, als wir glauben.
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Bürger, die gegen Projekte klagen, müssen sich häufig teure juristische Expertisen leisten. Ist das zumutbar?
Im Grunde gilt es ja, genau das zu vermeiden. Juristische Auseinandersetzungen führen zu hohen Kosten für die Beteiligten, und am Ende muss man oft ernüchternd feststellen, dass nichts dabei herausgekommen ist. So etwas kann man verhindern, wenn man Vermittlungsprozesse gut vorbereitet. Gleichwohl kann ich gut verstehen, wenn Menschen sauer sind, sich nicht mehr alles einfach bieten lassen und sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen.