Gevelsberg. Eine Gevelsberger Richterin war zu fast vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Jetzt wird der Fall neu verhandelt.

Der Fall der Gevelsberger Richterin (39), die zu drei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war, weil sie Fälle nicht bearbeitet und versucht hatte, dies zu vertuschen, wird vor dem Hagener Landgericht neu aufgerollt. Das ist die Folge der Entscheidung, die der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe zu ihrer Revision getroffen hat.

Die Gevelsbergerin, die viele Jahre am Amtsgericht in Lüdenscheid Straf- und Familienverfahren bearbeitet hatte, war am 18. November 2021 von der zuständigen Kammer am Hagener Landgericht der Rechtsbeugung, der Urkundenfälschung, des Verwahrungsbruchs sowie der Urkundenunterdrückung für schuldig befunden worden. In zehn Fällen sah es das Gericht als erwiesen an, dass die Angeklagte keine Urteile abgesetzt hatte. Hilfsangebote der Kollegen im Lüdenscheider Amtsgericht, denen die Verfehlungen aufgefallen waren, hatte sie nicht angenommen, statt dessen ein Protokoll gefälscht, Urteile zurückdatiert, die Staatsanwaltschaft, Verteidiger, andere Gerichte als höhere Instanzen und weitere Verfahrensbeteiligte belogen. Selbst nachdem sie zum Kritikgespräch beim Präsidenten des Hagener Landgerichts vorgeladen war, bearbeitete sie die Fälle nicht. Sie versteckte Akten in ihrem Keller, die im Rahmen einer polizeilichen Razzia in Gevelsberg entdeckt und gesichert wurden.

Schwere Folge für die Opfer der Richterin

Die Folgen waren für die Betroffenen schwerwiegend: Ein Vater durfte zu Unrecht zwei Jahre lang seine Kinder nicht sehen. Ein Mann blieb viel zu lange in Untersuchungshaft. Kinder bekamen zu wenig Unterhalt, andere Elternteile zahlten viel zu viel. Gutachter Dr. Nikolaus Grünherz bescheinigte ihr eine Arbeitsstörung, allerdings auch volle Schuldfähigkeit, weil sie 95 Prozent ihrer Aufgaben nicht nur fehlerfrei sondern vorbildlich und mit größter Fachlichkeit erledigte.

Der Verteidiger der Gevelsbergerin, Rechtsanwalt Torsten Giesecke, hatte unmittelbar nach dem Urteil Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt, der nun eineinhalb Jahre später eine differenzierte Entscheidung getroffen hat. Denn: Der Schuldspruch bleibt aufrecht erhalten. Auch der BGH sieht es als erwiesen an, dass sie die Taten, wegen derer sie verurteilt worden ist, begangen hat. „Die Überprüfung des Urteils durch den Senat hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben, soweit das Landgericht sie wegen Rechtsbeugung, Urkundenfälschung und Verwahrungsbruchs verurteilt hat“, heißt es vom Bundesgerichtshof zu der Sache.

Die 39-Jährige und ihr Verteidiger Torsten Giesecke werden sich eine Taktik für die erneute Verhandlung vor dem Hagener Landgericht überlegen müssen.
Die 39-Jährige und ihr Verteidiger Torsten Giesecke werden sich eine Taktik für die erneute Verhandlung vor dem Hagener Landgericht überlegen müssen. © Alex Talash | Alex Talash

„In sechs Fällen beging die Angeklagte jedoch entgegen der rechtlichen Würdigung in dem angefochtenen Urteil eine Rechtsbeugung nicht durch aktives Tun, sondern durch Unterlassen. Die Strafzumessung des Landgerichts hielt unter anderem deswegen der rechtlichen Nachprüfung nicht stand“, fassen die Karlsruher Richter ihre Einwände zusammen. Heißt: Nicht ob die 39-Jährige schuldig ist – denn der Schuldspruch ist mit der Revisionsentscheidung rechtskräftig –, sondern einzig und allein die Höhe ihrer Strafe wird neu verhandelt.

Dazu hat der BGH den Fall an das Landgericht Hagen zurückverwiesen, das die Strafe neu festsetzen muss. Die Verhandlung wird vor einer anderen Kammer erfolgen, als derjenigen, die seinerzeit das erstinstanzliche Urteil gefällt hatte. In der Praxis wird das wie folgt aussehen: „Wahrscheinlich noch in diesem Jahr wird das Verfahren beginnen“, sagt Richter Marcus Teich, Pressesprecher des Landgerichts in Hagen. Zeugen, die für die Frage, die neu geklärt werden muss, ob sie in sechs Fällen aktiv gehandelt oder lediglich unterlassen hat, werden erneut gehört werden.

Sachverständiger beurteilt Schuldfähigkeit erneut

„Ebenso“, so betont Teich im Gespräch mit dieser Zeitung, „muss die Frage der Schuldfähigkeit erneut geklärt werden.“ Heißt: Entweder Dr. Nikolaus Grünherz zum zweiten Mal oder ein anderer Sachverständiger begutachtet den Gesundheitszustand der 39-Jährigen erneut, um festzustellen, ob sie möglicherweise in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hatte. Das würde das Strafmaß weiter senken, war aber bislang vom Experten kategorisch ausgeschlossen worden.

Die Angeklagte selbst hatte immer wieder mit einer Blockade argumentiert. Doch Richter Christian Potthast hatte in seiner mehr als 90-minütigen Urteilsbegründung eine gänzlich andere Sichtweise der Kammer in deutliche Worte gegossen: „Ihre Verfehlungen waren so schwer, dass Zweifel an der Justiz aufkommen. Vor allem die Gleichgültigkeit, mit der sie agierte, ist zu beachten. Die Angeklagte wusste genau, was sie tat. Und ihr Handeln nährt eher den Verdacht, dass in Wirklichkeit noch viel mehr als die angeklagten Verfahren betroffen sind.“

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Wie hoch die Strafe am Ende ausfällt, das vermag zum jetzigen Zeitpunkt niemand zu sagen. Fest steht jedoch: Mehr als die drei Jahre und zehn Monate Gefängnis wird sie nicht bekommen. „Weil ausschließlich die Angeklagte Revision eingelegt hat, besteht ein Verschlechterungsverbot“, erläutert Marcus Teich den rechtlichen Hintergrund.

Theoretisch ist es möglich, dass die Strafe sogar unter zwei Jahre rutscht. Damit wäre sogar eine Bewährung möglich und die Richterin müsste nicht ins Gefängnis. Sie war seit August 2020 zunächst krank geschrieben, wurde im Juli 2021 vorläufig des Dienstes enthoben. Um noch einmal in ihrem Beruf tätig zu werden, müsste die Gesamtstrafe für alle zehn Taten, derer sie schuldig ist, unter ein Jahr rutschen. Weil die meisten einzelnen Taten bereits eine Mindeststrafe von mehr als einem Jahr nach sich ziehen, würde dies sicher eine Überraschung sein. Verurteilt sie auch die zweite Kammer des Hagener Landgericht zu mehr als einem Jahr Haft, verliert sie ihren Beamtenstatus, ihre Pensionsansprüche, dürfte nicht mehr in den Staatsdienst zurückkehren.

Ist das Revisionsverfahren abgeschlossen, ist das Verfahren gegen die Richterin des Lüdenscheider Amtsgerichts mit größter Wahrscheinlichkeit endgültig beendet. Denn die Revision ist das letzte Rechtsmittel, das gegen ein Urteil eingelegt werden kann. Mehr als drei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals im Lüdenscheider Amtsgericht wäre dieser dann juristisch komplett aufgearbeitet.

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