Gevelsberg. Zwei Polizistinnen lassen Kollegen bei einer Schießerei in Gevelsberg im Stich. Jetzt ist das Urteil gefallen. Doch das ist noch nicht das Ende.
Nach dem Urteil hatten es Nadine A. (33) und Patricia B. (38) eilig, das Gerichtsgebäude zu verlassen. Äußern wollten sich die beiden Polizistinnen, die in Gevelsberg während einer Schießerei weggelaufen waren, nicht. Gleichwohl haben sie zumindest einen Teilsieg vor dem Hagener Landgericht errungen. Von einem Jahr auf Bewährung hat die Berufungskammer das Urteil für die beiden Frauen auf vier Monate zur Bewährung reduziert und damit eine ganz entscheidende Marke für deren berufliche Zukunft unterschritten. Ausgestanden ist die Sache damit für die beiden aktuell suspendierten Beamtinnen allerdings nicht.
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Die Geschichte ist hoch komplex; ein Drahtseilakt zwischen strafrechtlicher Relevanz, Dienstpflichten von Polizeibeamten und einer gewaltigen moralischen Komponente, wenn es darum geht, das Verhalten der beiden Frauen in der Nacht auf den 6. Mai 2020 einzuordnen. Die Fragen, die Richterin Claudia Oedinghofen und ihre beiden Schöffen am Ende beantworten mussten: Ist es eine Straftat, als erfahrene Polizeibeamtinnen einen niedergeschossenen Kollegen auf dem Asphalt liegen zu lassen und einen weiteren Kollegen, der erst ein halbes Jahr aus der Ausbildung ist, mit der Situation allein zurückzulassen? Ist es von der Judikative zu bestrafen, wenn diese Polizistinnen auf ihrer Flucht eine Altenpflegerin anhalten zur ihr ins Auto steigen und sich eineinhalb Kilometer von der Schießerei wegfahren lassen? Nachdem bereits das Amtsgericht Schwelm diese Frage mit einem klaren „Ja“ beantwortete, hat dies nun auch die Berufungsinstanz getan.
Erst vom SEK überwältigt
Das Gericht sah es als erwiesen, an dass die Frauen hätten anders handeln müssen, um einerseits ihre Kollegen zu schützen, andererseits Vitalij K. an der Flucht zu hindern. Der war bewaffnet und vollgepumpt mit Kokain erst Stunden später von SEK-Leuten in der Gevelsberger Innenstadt überwältigt worden. Hatten die beiden Verteidiger noch einen Freispruch für ihre Mandantinnen gefordert und bestritten, dass diese irgendwie auf das Geschehen hätten einwirken können, so machte Richterin Claudia Oedinghofen deutlich: „Sie hätten sich hinter ein Fahrzeug in Deckung zurückziehen können, die Situation erfassen und dann auf Vitalij K. beziehungsweise seinen Fluchtwagen das Feuer eröffnen können.“
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Staatsanwalt Jörn Kleimann hatte zuvor in seinem Plädoyer deutliche Worte in Richtung der beiden Frauen gefunden: „Es ist wohl das Schlimmste, was man einer Polizistin, die sich freiwillig für diesen Job entschieden hat, vorwerfen kann: Sie hätten Hilfe leisten müssen und nicht weglaufen dürfen nach dem Motto ,Besser die als wir.’“ Er forderte, den Schuldspruch aus dem ersten Urteil aufrecht zu erhalten, was das Gericht schließlich tat.
Allerdings mit einem deutlichen Unterschied: Aus dem einen Jahr, das für die beiden Frauen den Entzug des Beamtenstatus’ zur Folge gehabt hätte, sind nun vier Monate geworden. Heißt: Werden sie nicht noch im Zuge eines möglicherweise folgenden Disziplinarverfahrens aus dem Dienst enthoben, werden sie weiterhin als Polizistinnen arbeiten dürfen. Vor ihrer Suspendierung war A. im Innendienst, B. in Elternzeit.
Revision und Disziplinarverfahren
So geht es nun weiter: Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die beiden Verteidiger der Frauen haben nun eine Woche Zeit, sich zu überlegen, gegen dieses Urteil Revision beim Oberlandesgericht in Hamm einzulegen. Beide Seiten hielten sich aber nach der Verhandlung mit Prognosen zurück. Während Staatsanwalt Kleimann auf die noch folgende Prüfung verwies, zeigte sich Eckhard Wölke, Verteidiger von Patricia B., recht zufrieden mit dem Ausgang. „Das scheint mir akzeptabel, liegt deutlich unter der Strafe aus der ersten Instanz“, sagte er, betonte aber gleichwohl, eine Revision zu prüfen.
Heißt: Legt eine Seiten das Rechtsmittel ein, wird die strafrechtliche Komponente der Flucht wohl erst in mindestens einem halben Jahr einen Abschluss finden. Unberührt davon darf sich nun Olaf Schade, der als Landrat des Ennepe-Ruhr-Kreises qua Amt auch Chef der Kreispolizeibehörde ist, damit auseinandersetzen, ob er gegen die beiden Frauen noch ein Disziplinarverfahren anstrengt. Dies wäre durch den Entzug des Beamtenstatus’ bei der ursprünglichen Strafe von einem Jahr obsolet gewesen. Bei den nun verhängten vier Monaten muss sich der Behördenleiter Gedanken machen, ob er dienstrechtlichen Konsequenzen folgen lassen will, beziehungsweise vielleicht sogar muss.
Rapport beim Innenminister
Die Behörde, die dann die Ermittlungen aufnimmt, wäre das Polizeipräsidium Hagen, es ist aber parallel dazu davon auszugehen, dass das Innenministerium NRW ein sehr genaues Auge auf die Sache halten wird. Die Behörde um Minister Herbert Reul hatte die Führungsriege der Kreispolizeibehörde bereits einige Monate nach der verhängnisvollen Nacht zum Rapport nach Düsseldorf einbestellt, weil das Ministerium erst Wochen nach der Flucht der Polizistinnen über den Vorfall in Gevelsberg informiert worden war.
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Kommt es tatsächlich zu einem Disziplinarverfahren gegen die Frauen, die seit dem 16. November 2021 – der Tag des Amtsgerichtsurteils – suspendiert sind, erscheinen zwei Szenarien realistisch: eine Rückstufung der Frauen in der Hierarchie oder eine Enthebung aus dem Dienst auf diesem Wege. Klar dürfte sein: Ausgestanden ist die Sache für Nadine A. Patricia B. auch nach diesem Erfolg vor dem Landgericht noch nicht.
Polizist in Gevelsberg angeschossen
Nach den Vorfällen in der Nacht auf den 6. Mai 2020 in Gevelsberg standen Nadine A. und Patricia B. plötzlich bundesweit im Fokus der Berichterstattung. Vitalij K. hatte damals im Rahmen einer Polizeikontrolle plötzlich das Feuer mit einer scharfen Pistole auf zwei Polizeibeamte eröffnet.
Eine Kugel traf einen der beiden in die schusssichere Weste, er ging zu Boden. Der Zweite erwiderte das Feuer auf K., dem dennoch die Flucht gelang. Vollgepumpt bis in die Haarspitzen mit Kokain versteckte er sich stundenlang bewaffnet in der Gevelsberger Innenstadt, schoss später auch auf die SEK-Beamten, die ihn überwältigten.
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Die Polizistinnen waren unmittelbar vor den Schüssen auf ihre Kollegen an der Kontrollstelle vorbeigefahren, hatten die Situation, die aus dem Ruder lief, gesehen, waren angehalten und ausgestiegen. In ihrem Gerichtsverfahren, das vor dem Amtsgericht Schwelm stattfand, hatten beide ausgesagt, dass sie gesehen hätten, wie ihr angeschossener Kollege zu Boden gegangen sei. Dennoch ergriffen sie die Flucht.
So kam der Fall an die Öffentlichkeit
Die Flucht von Nadine A. und Patricia B. war von allen Behörden – Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr, Polizeipräsidium Hagen, Innenministerium NRW – über Monate aus der Öffentlichkeit gehalten worden.
Erst Rechtsanwalt Andreas Trode, Verteidiger von Vitalij K., hat den Blick im Verfahren gegen seinen Mandanten auf die beiden Polizistinnen und ihre Flucht gelenkt.
Erst dadurch wurden der Fall und die bis dato desolate Aufarbeitung überhaupt publik.