Gevelsberg. Der Prozess gegen zwei Polizistinnen nach einer Schießerei in Gevelsberg wird neu aufgerollt. So lief der erste Prozesstag.
Werden Nadine A. (33) und Patricia B. (38) irgendwann noch einmal als Polizistinnen arbeiten dürfen? Derzeit stehen die Chancen dafür schlecht, nachdem das Amtsgericht Schwelm sie zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt hatte. Sie hatten zwei Kollegen, die in Gevelsberg unter Beschuss standen, im Stich gelassen und liefen weg. Während des Auftakts der Berufungsverhandlung deutet für den geneigten Prozessbeobachter zumindest bislang nicht sehr viel darauf hin, dass sich an dieser Lage für die beiden Frauen etwas Entscheidendes ändert.
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Dafür widerlegten an zu vielen Stellen die Bilder aus der Überwachungskamera des Streifenwagens, die Aufzeichnungen des Funkverkehrs sowie ihrer Telefonate mit der Leitstelle die Aussagen der beiden Frauen zu den Geschehnissen in der Nacht auf den 6. Mai, als Vitalij K. während einer Polizeikontrolle das Feuer auf zwei Beamte eröffnete. Während ein Kollege angeschossen wurde und zu Boden ging, versuchte der andere Kollege – zu diesem Zeitpunkt erst seit einem halben Jahr aus der Ausbildung – den Flüchtigen zu stoppen und seinen Kollegen vor weiteren Treffern zu schützen.
Junger Kollege ganz allein
„Die Deckungsmöglichkeiten waren für mich zweitrangig“, sagte er aus. „Es ging mir um meinen Kollegen und darum, die Flucht zu verhindern.“ Der junge Polizist rief den Notarzt und Verstärkung, leitete eine Nahbereichsfahndung ein und er forderte lautstark Unterstützung über Funk: „A., B. wo seid Ihr?“ rief er ins Funkgerät und mehrfach in die Nacht. Die waren nämlich zufällig an der Kontrollstelle vorbeigefahren, hatten angehalten und waren ausgestiegen, als sie sahen, dass K. Widerstand leistete.
Doch die beiden erfahrenen Polizistinnen – B. war zu diesem Zeitpunkt seit sieben, A. seit vier Jahren mit der Ausbildung fertig – waren zum Zeitpunkt des Rufs nach Unterstützung über Funk bereits getürmt; ohne Funkgeräte, im Auto einer Altenpflegerin, die zufällig auf den Tatort zufuhr. Ihren eigenen Wagen ließen sie – möglicherweise unverschlossen mit geladenen Maschinenpistolen – am Tatort zurück. Im Gegensatz zu ihren Einlassungen beim erstinstanzlichen Prozess, in dem sie wegen gemeinschaftlicher, versuchter, gefährlicher Körperverletzung im Amt durch Unterlassung verurteilt worden waren, ging die Tonalität ihrer Aussagen diesmal deutlich auseinander.
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Beide beschrieben eindrücklich, wie sehr sie die Schüsse emotional an ihre Grenzen gebracht haben: „Plötzlich brach die Hölle los.“ „Wir mussten von einem Hinterhalt ausgehen.“ „Wir gingen extrem davon aus, dass wir verfolgt werden.“ Doch während A. dabei bemüht war, möglichst sachlich die Geschehnisse zu beleuchten und aus der Erinnerung heraus zu skizzieren, sprach B. vor allem über ihre eigene Gefühlswelt. Sie habe den etwa eineinhalb Kilometer weiten Rückzug „benötigt, um meine Gedanken zu sammeln. Ich hätte nicht anders agieren können, denn in erster Linie bin ich ein Mensch und der hatte Todesangst. Es darf nicht sein, dass meine ganze Karriere wegen dieses einen Einsatzes vorbei sein soll.“
Eine drängt, eine bremst
Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird sich mit größter Sicherheit am kommenden Mittwoch, 5. Oktober, zeigen, wenn das Hagener Landgericht als Berufungsinstanz aller Wahrscheinlichkeit nach sein Urteil fällen wird.
Bis dahin werden sich die Vorsitzende Richterin Claudia Oedinghofer und ihre Schöffen sowie Staatsanwalt Jörn Kleimann wohl auch mit den Diskrepanzen zwischen den Aussagen der Frauen und des Bild- sowie Tonmaterials auseinander setzen. Beispielsweise machten beide deutlich, sie hätten nichts davon gewusst, dass die Kollegen den vorliegenden Haftbefehl gegen K. abfragen. A. spricht jedoch genau dies später im Telefonat mit der Leitstelle an.
Vitalij K. sitzt lange in Haft
Vitalij K. wurde bereits im März 2021 zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Seinerzeit hatte Richterin Heike Hartmann-Garschagen die Polizeiarbeit deutlich kritisiert. Denn von mehrfachem versuchten Mord war nur ein versuchter Totschlag übrig geblieben.
K. hatte sich über viele Stunden hinweg in der Gevelsberger Innenstadt versteckt, eröffnete schließlich auch das Feuer auf SEK-Beamte, die ihn mit einem Schuss in den Oberschenkel stoppten.
Auch das Chaos am Tatort kann nicht derart gewesen sein, wie die Frauen zunächst berichteten, denn A. beschreibt sehr genau auch in eben jenem Telefonat, was passiert ist, dass sie gesehen haben, wie ein Kollege angeschossen wurde, der andere daneben stand. Ebenso spricht sie eindeutig von einem einzigen Täter und nicht von einem Hinterhalt. Diverse weitere Ungereimtheiten kommen hinzu, wie eine klare Einordnung der Schüsse durch A., die nicht zu den Aussagen passt, es habe ein kriegsähnlicher Zustand geherrscht.
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Während A. darauf drängt, zur Einsatzstelle zurückzukehren, bremst B., und erst der Kollege von der Leitstelle bekommt die Frauen dazu, zu ihrem verletzten Kollegen zurückzukehren: „Fasst Euch ein Herz und fahrt zurück.“ Bis sie jedoch dort wieder eintrafen, war bereits der Rettungswagen vor Ort und weitere Verstärkungskräfte haben den Tatort abgesperrt.
Antworten auf die drängenden Fragen gibt es kommende Woche, wenn das Gericht sich damit beschäftigen muss, ob sie K. hätten aufhalten können, die Kollegen hätten schützen können und sich im strafrechtlich relevanten Rahmen anders hätten verhalten müssen.