Gevelsberg/Hagen. Die Polizistinnen, die ihre Kollegen beim Einsatz in Gevelsberg im Stich gelassen haben, sind zu Bewährungsstrafen verurteilt worden.
Die beiden Frauen auf der Anklagebank wirken deutlich angegriffen, während sich die Aufmerksamkeit aus der ganzen Republik auf den Hagener Gerichtssaal fokussiert. Nadine A. (32) und Patricia B. (37) versuchen wortreich Verständnis für ihr Handeln zu wecken, doch das gelingt weder bei der Staatsanwaltschaft noch bei Richterin Anna Walther. Ein Jahr auf Bewährung lautet das Urteil gegen die beiden Polizistinnen, die geflüchtet waren, als sich zwei ihrer Kollegen im Kugelhagel befanden. Das brisante an der vermeintlich milden Strafe: Weil diese Strafe bei einem Jahr oder mehr liegt, bekommen die Frauen ihren Beamtenstatus entzogen, werden aus dem Polizeidienst entfernt, wenn das Urteil der Berufung stand hält.
Der Fall
In der Nacht auf den 6. Mai 2020 kontrollierten zwei Polizisten in Gevelsberg Vitalij K. – vollgepumpt mit Kokain, im Auto etwas mehr als 50 Gramm Heroin und eine scharfe Waffe. Unmittelbar bevor K. mitbekommt, dass die Polizisten den gegen ihn offenen Haftbefehl vollstrecken werden, fahren die zwei Kolleginnen in ihrem Mercedes Vito vorbei. Einer der Polizisten gibt ihnen ein Anhaltezeichen. Dann überschlagen sich die Ereignisse: K. greift die Polizisten an, flüchtet in seinen Wagen. Die Beamten wollen ihn herauszerren, da eröffnet er das Feuer. Im Rückspiegel sieht Nadine A., dass die Situation außer Kontrolle gerät. Noch vor dem erste Schuss sind beide Frauen aus dem Wagen gesprungen. Als die Kugeln durch die Luft fliegen, suchen sie jedoch das Weite.
„Es war wie im Krieg“, sagt Patricia B., die mit ihrer Kollegin den Wagen einer Altenpflegerin stoppte, die auf den Tatort zufuhr. Die Polizistinnen zwangen die Frau, ihnen ihr Handy zu geben, umzudrehen und sie mehr als eineinhalb Kilometer vom Tatort in eine Sackgasse zu fahren. Erst nach Aufforderung durch die Kreisleitstelle ließen sie sich von der Altenpflegerin wieder zurück zum Tatort bringen.
Der Prozess
Die Polizistinnen warben vor dem Schwelmer Amtsgericht, das wegen des riesigen Medienauflaufs im Gebäude des Hagener Landgerichts tagte, für Verständnis. „Ich bitte um Einfühlungsvermögen, auch wenn es nicht möglich ist, unsere Todesangst nachzuvollziehen“, sagte Patricia B. mit zittriger Stimme. Nadine A. äußert sich später ähnlich. Es sei dunkel gewesen, die vielen Schüsse hätten sie in Todesangst versetzt. Auf solche Situationen seien sie in ihrer Ausbildung niemals vorbereitet worden.
Gleichwohl gaben beide an, gesehen zu haben, wie der Kollege nach einem Treffer aus der Pistole des K. zu Boden gegangen war. Vor allem von den beiden Kollegen bekamen die Frauen vor Gericht Rückendeckung. „Ich mache beiden keinen Vorwurf, es hätte sich nichts geändert, ob sie da gewesen wären oder nicht. Im Gegenteil, es tut mir sehr leid, dass wir jetzt hier sitzen“, sagte der Niedergeschossene.
Doch das beeindruckte Staatsanwalt Jörn Kleimann nicht. „Sie haben sich freiwillig und bewusst für den Beruf der Polizistin entschieden“, machte er deutlich, wie sehr sich aus seiner Sicht das Handeln eines Polizisten von dem der Zivilisten unterscheiden müsse. „Sie sind verpflichtet, das Leib und Leben anderer zu schützen. Es wäre zumutbar gewesen, ihren Kollegen zu helfen.“ Sie hätten beispielsweise Warnschüsse aus der Deckung abgeben und eventuell hätten sie K. an der Flucht hindern können. Zur Erinnerung: Viele Stunden versteckte sich der Bewaffnete in der Gevelsberger Innenstadt, bis er von einem Spezialeinsatzkommando überwältigt wurde.
Die Sichtweise der Staatsanwaltschaft teilten die beiden Verteidiger Eckhard Wölke und Volker van Boekel naturgemäß nicht. Beide beantragten Freispruch, stützten diese Forderung vor allem darauf, dass ein anderweitiges Eingreifen der Frauen keinen anderen Erfolg hätte bringen können. Doch diese Argumentation brachte ihnen selbst auch keinen Erfolg, denn Richterin Anna Walther folgte mit den beiden Schöffen dem Antrag der Staatsanwaltschaft. „Ich kann ihre Todesangst nicht nachempfinden, aber verstehen. Dennoch ist es so, dass man als Polizeibeamter rein rechtlich anders reagieren muss.“
Wie lange die beiden Frauen – Patricia B. befindet sich in Elternzeit, Nadine A. im Innendienst – überhaupt noch im Staatsdienst tätig sind, ist ohnehin fraglich. Denn bereits unmittelbar nach Prozessende hat die Verteidigung Rechtsmittel angekündigt. In diesem Fall scheint die Berufung probat zu sein, so dass der Prozess mit hoher Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr als Berufungssache vor dem Hagener Landgericht erneut verhandelt wird. Wird das aktuelle Urteil rechtskräftig, ist die Karriere der Frauen bei der Polizei und in jedem anderen Beamtenverhältnis beendet.
Die Behörde
Die Kreispolizeibehörde Ennepe-Ruhr sowie das Hagener Polizeipräsidium waren bereits wegen zahlreicher Fehler in der Polizeiarbeit im Verfahren gegen Vitalij K. in den Fokus geraten. Richterin Heike Hartmann-Garschagen machte deutlich, dass es maßgeblich an den Verfehlungen bei der Polizei gelegen habe, dass K. nur zu sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Der damalige Verteidiger sprach mit Blick auf die beiden Polizistinnen sogar von Vertuschung. Dieses Zurückhalten von Informationen hatte – wie erst jetzt öffentlich bekannt ist – Landrat Olaf Schade als Chef der Kreispolizeibehörde sowie der Polizeispitze einen Termin im NRW-Innenministerium eingebracht.
Denn: Das Ministerium hatte von der Flucht der Frauen erst durch einen anonymen Brief erfahren, der am 29. Mai, dort eingegangen war. „Umgehend wurden der Landrat, der Abteilungsleiter Polizei, der Direktionsleiter Gefahrenabwehr/Einsatz sowie der zuständige Wachleiter zu einem Erörterungsgespräch ins Innenministerium gebeten. Das Gespräch diente zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Frage der Wahrnehmung verantwortungsvoller Führung“, teilt Leonie Möllmann, Pressesprecherin des Innenministeriums mit.
Auf Nachfrage der Redaktion teilt Sonja Wever, Pressesprecherin der Kreispolizeibehörde mit, dass Landrat Schade in der Tatnacht über den Schusswechsel informiert wurde. Nachdem es zu Beginn der Folgewoche erste Hinweise gab, dass sich die beiden Beamtinnen von der Einsatzstelle entfernt hätten, habe die Kreispolizeibehörde die Mordkommission des Polizeipräsidiums Hagen darüber in Kenntnis gesetzt. „Die Meldung an das Innenministerium sollte mit der Einleitung des Strafverfahrens erfolgen. Die Ermittlungsergebnisse gaben das zu dem Zeitpunkt noch nicht her“, schreibt Sonja Wever. Dies, so betont das Ministerium jedoch, sei völlig unerheblich. Die Information hätte erfolgen müssen.
An vielen weiteren Punkten gibt es offene Fragen zur Arbeit der Polizei vor Ort. Eine weitere kam nun im aktuellen Prozess hinzu: Warum gibt der Vorgesetzte der beiden Angeklagten in seiner Befragung vor einem Jahr an, Kollegen hätten ihm mehrfach mitgeteilt, die Frauen wären im Einsatz nicht zu hundert Prozent einsatzbereit, und bestreitet dies jetzt? Vielleicht bringt die Berufungsverhandlung da noch etwas Licht ins Dunkel.