Winterberg/Brilon. André Stielicke aus Winterberg lässt sich als Erwachsener katholisch taufen: Er erzählt von seinen Erfahrungen als homosexueller Katholik.

„Wenn ich zwei Wochen nicht in der Kirche war, fehlt mir etwas… Für mich gibt es den einen Trost, dass das hier nicht alles war… Ich bete den Rosenkranz, statt Schäfchen zu zählen… Ich spüre bei der Wandlung, da passiert etwas und ich darf ein Teil davon sein…“ Es sind starke Sätze, die André Stielicke sagt, wenn man mit ihm über Kirche und Glauben spricht. Sätze, die aus tiefster, innerer Überzeugung kommen. Während immer mehr Menschen der Institution Kirche den Rücken kehren, begegnet er ihr mit offenen Armen und offenem Herzen. Während immer mehr austreten, ist der 40-Jährige vor fünf Jahren eingetreten. Nicht einfach so, nicht blauäugig, nicht hallelujah-blind, sondern ganz bewusst.

„Dennoch“ und „Gerade deshalb“ geben ihm Kraft

Als jemand, der in einer gleichgeschlechtlichen (lange Zeit von der Kirche als „Sünde“ bezeichneten) Beziehung lebt, dem die Kirche deswegen u.a. das Sakrament der Ehe versagt, der immer noch nicht Diakon und nicht Kommunionhelfer werden darf (obwohl er es gern geworden wäre), hätte der Wahl-Winterberger allen Grund, frustriert oder verärgert zu sein. Ist er aber nicht. Mit seiner Devise „Dennoch!“ oder „Gerade deshalb“ zieht der Gastronom (Big Mountain in Winterberg oder Stadtschenke und Nineteen in Brilon) sein Katholisch-Sein konsequent durch. Und in einer Osternacht - ursprünglich war das der einzige Tauftermin der Kirche - hat Stielicke das Sakrament der Taufe empfangen. Kommunion und Firmung waren gleich mit dabei. Dieser Tag und der inzwischen weit heruntergebrannte Osterkerzen-Wachs-Stumpf sowie die Jakobsmuschel als Geschenk der Gemeinde bedeuten ihm viel.

Seine Taufe war für André Stielicke (2.v.l. mit seiner Taufpatin, Pfarrer Norbert Lipinski und Gemeindereferent Jörg Willerscheidt) ein einschneidendes Erlebnis.
Seine Taufe war für André Stielicke (2.v.l. mit seiner Taufpatin, Pfarrer Norbert Lipinski und Gemeindereferent Jörg Willerscheidt) ein einschneidendes Erlebnis. © FUNKE Foto Services | Privat

Rückblick: 1984 erblickt der kleine André im Raum Mecklenburg das Licht der Welt. Kirche, Bibel und Gott sind im Elternhaus - der Vater evangelisch, die Mutter katholisch - kein Thema. 1994 ziehen die Stielickes nach Winterberg und eigentlich will sich der Teenager schon im zehnten Schuljahr taufen lassen. „So einen Blödsinn kannst Du machen, wenn Du erwachsen bist“, lautet die Reaktion aus der Familie. Im Waldhaus Ohlenbach macht der junge Mann seine Koch-Lehre, dann zieht es ihn für zehn Jahre nach Köln. „Wenn ich mein Restaurant mal so vollkriege wie den Kölner Dom, dann lasse ich mich taufen“, sagt er sich damals. Kirchenräume ziehen ihn schon immer magisch an. „Ich bin auch vor der Taufe viel in Kirchen und Gottesdienen gewesen, habe viel ausprobiert und auf mich wirken lassen.“ Aber es ist letztlich nicht die große Kathedrale, sondern eher eine kleine Klause, die beim Schmieden der Taufpläne die finale und entscheidende Rolle spielt. Bei einem der „Bergfeste“ auf dem Kahlen Asten - inzwischen bewirtschaftet der erfolgreiche Koch damals die höchstgelegene Gastronomie in NRW – lernt er Jörg Willerscheidt kennen. Der ist Gemeindereferent und steht an diesem Tag mit dem zur Kloster-Kemenate umgebauten Transportfahrzeug „ruhe.pol“ auf dem Kahlen Asten. Die beiden kommen ins Gespräch - über Gott und die Welt, über Kirche, über das Christsein. Stielicke möchte unbedingt in diese Gemeinschaft aufgenommen werden.

Zahl der Kirchenaustritte steigt

Immer mehr Menschen wenden sich von ihrer Kirche ab. Im Jahr 2022 hatte die katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) Rekordzahlen an Austritten gemeldet: 522.821 Katholiken kehrten ihrer Kirche den Rücken. Die Protestanten meldeten 2022 insgesamt 380.000 Kirchenaustritte bundesweit. Im Erzbistum Paderborn waren es im Jahr 2022 fast 27.000 Katholiken, die ausgetreten sind.

In Brilon zum Beispiel hat sich die Zahl der Kirchenaustritt seit 2020 verdreifacht. Die Zahl ist kontinuierlich angestiegen von 183 (2020), auf 352 Austritte (2021) und weiter auf 560 Austritte in 2022. Die Tür für Rückkehrer steht übrigens immer offen. Eine Wiederaufnahme erfolgt allerdings nicht bei der staatlichen Stelle, bei der der Austritt erklärt wurden, sondern bei der katholischen Kirche selbst. Das Gleiche gilt auch für die Ev. Kirche, die sich ebenfalls offen für Rückkehrer/innen zeigt.

Die Chemie zwischen ihnen stimmt auf Anhieb. Willerscheidt bereitet den Täufling auf individuelle und eher unkonventionelle Art ein Jahr lang auf seine Taufe vor. „Für mich war das auch eine sehr wichtige Zeit. Wir haben uns der Thematik häufig über Symbole in Kirchenräumen genähert, über Zahlen, über Rituale. Und manche Dinge, die für mich naturgegeben selbstverständlich waren – zum Beispiel Kniebeugen - habe ich neu hinterfragt und in ihrer Wertigkeit neu erfahren.“ Fünf Menschen hat Willerscheidt in den vergangenen sieben Jahren auf dem Weg zur Taufe begleitet. Für einige war das Sakrament nur eine Formalie. Kaum einer hat so für das Thema gebrannt wie Stielicke, der inzwischen dem Pfarrgemeinderat in Winterberg vorsteht – erst „nur“ als Mitglied berufen, dann als Vorsitzender gewählt. Inzwischen gehört er dem Diözesankomitee an. Das ist die Vertretung der katholischen Laien aus den Pfarrgemeinderäten und Verbänden im Erzbistum Paderborn, die Kirche mitgestalten will.

Zur Taufe gab es natürlich eine Torte: Der katholische Christ André Stielicke fühlt sich wohl in der großen Community - trotz ihrer Fehler, Ecken und Kanten. 
Zur Taufe gab es natürlich eine Torte: Der katholische Christ André Stielicke fühlt sich wohl in der großen Community - trotz ihrer Fehler, Ecken und Kanten.  © WP | Privat

„Ich bin ein sehr kopflastiger Mensch. Ich denke viel über den Sinn des Lebens nach. Die Heilige Messe ist für mich ein gemeinschaftliches Ritual, bei dem ich mich zentrieren kann. Als Erwachsener war es für mich einfacher, mich bewusst für die katholische Kirche zu entscheiden. Ich konnte hinterfragen, ich konnte abwägen. Letztlich ist es wie mit einem Parteibuch, für das ich mich entscheide. Ich gehe nicht mit allen Dingen konform und muss mir die aussuchen, zu denen ich die meisten Berührungspunkte habe. Ich glaube an eine Kirche, wie sie sein kann. Ich sehe all ihre Verfehlungen und Missstände. Aber ich sehe auch viele Dinge, die Kirche gut macht. Wenn man sich einbringen und etwas verändern möchte, dann kann man das nicht durch einen Austritt tun. Dann muss man in der Gemeinschaft bleiben und sie von innen mitgestalten und verändern.“

André Stielicke
André Stielicke © WP | Privat

Ich möchte nicht den Weihrauch aus der Kirche holen, ich möchte gemeinsam mit Gleichgesinnten etwas gestalten und von meiner Begeisterung mitgeben: Du kannst ein guter oder ein schlechter Mensch sein. Wenn Du in letzter Sekunde bereust, gibt es einen Dich liebenden Gott, der ohne Vorbehalt sagt: ,Hey, alles ist gut.‘ Wie toll ist das denn?
André Stielicke - bekennender Christ

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Auf seinem Weg zum Christwerden und auch bei seinem Christsein erlebt der 40-Jährige nach wie vor Widerstände. Auch seine Homosexualität ist immer wieder für einige Stein des Anstoßes. „Ich kann nicht verstehen, warum meine Liebe zu jemandem für einen anderen Menschen anstößig oder verletzlich sein kann.“ Aber jeder Rückschlag hat ihn dazu motiviert, weiterzumachen. Er nutzt die Energie für andere Dinge. Schließlich stehe nirgendwo geschrieben, dass Glaube und Kirche nur angenehm sein dürfen und ganz ohne Reibungspunkte auskommen. „Es gibt innerhalb der Kirche viele Gruppen, sie sich nicht abgeholt fühlen. Denn im Prinzip glaube ich, dass jeder an etwas glaubt. Ich sehe viele, die richtig Bock haben, etwas in der Kirche zu bewegen. Ich fühle mich berufen, mitzugestalten. Viele sind überrascht, wenn ich von meiner Kirche erzähle. Dazu brauche ich keinen Bibelkreis, ich erzähle davon und lebe das in meinem Alltag. Wein und Brot auf dem Tisch – ein gutes Gespräch. Mir bedeutet es etwas, Mitglied einer so großen Community zu sein.“

Gemeindereferent Jörg Willerscheidt hat den Taufbewerber auf den Empfang des Sakramentes vorbereitet.
Gemeindereferent Jörg Willerscheidt hat den Taufbewerber auf den Empfang des Sakramentes vorbereitet. © WP | privat

André Stielicke ist sich bewusst, dass Kirche weiter schrumpfen wird, dass sie sich ändern wird. Kirchenmitglied sein ohne Steuern zu bezahlen, alte Zöpfe abschneiden oder sie zumindest auf den Prüfstand stellen – alles ist denkbar und in Anbetracht des fortschreitenden Priestermangels ist vieles auch realistisch. „Ich möchte nicht den Weihrauch aus der Kirche holen, ich möchte gemeinsam mit Gleichgesinnten etwas gestalten und von meiner Begeisterung mitgeben: Du kannst ein guter oder ein schlechter Mensch sein. Wenn Du in letzter Sekunde bereust, gibt es einen Dich liebenden Gott, der ohne Vorbehalt sagt: ,Hey, alles ist gut.‘ Wie toll ist das denn?“