Brilon/Münster/Kleve. Wenn ein Kind nicht wollte, nahm er sich das nächste: Der ehemalige Leiter des Petrinums hat furchtbare Taten begangen. Das wird nun dokumentiert

Die Missbrauchsvorwürfe gegen den ehemaligen und 1991 verstorbenen Leiter des Briloner Petrinums verhärten sich. Ein Dossier des Bistums Münster nennt mindestens 25 Betroffene. Ein Teil davon fiel auch in die Briloner Zeit. Dabei konnte sich der katholische Priester Freistühler vor allem seine damalige Autorität als Priester ausnutzen.

In den frühen 1960er Jahren Leiter des Petrinums in Brilon

Das Dossier umfasst 18 Seiten und deckt auf, dass es zwar Hinweise und Gerüchte um Freistühler gab, es allerdings keine oder zumindest keine eindeutigen Hinweise auf missbräuchliches Verhalten des Priesters, der bis 1986 offiziell Geistlicher der Erzdiözese Paderborn war, in den Personalakten der Schulbehörden oder des Bistums Münster gab. Offenbar verhinderten lange Zeit die Position als Priester und Schuldirektor und vermutlich Scham, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten oder das Bistum zu informieren. Einen konkreten Hinweis erhielt der damalige und inzwischen verstorbene Münsteraner Bischof Reinhard Lettmann Ende der 1980er-Jahre durch den Brief eines Betroffenen. Über die Reaktionen darauf gibt es, auch das wird im Dossier dargestellt, unterschiedliche Ansichten. Freistühler, der zu diesem Zeitpunkt bereits erkrankt war, wurde jedenfalls entpflichtet, durfte aber in Kleve wohnen bleiben, wo er zuletzt arbeitete. Eine Entschuldigung gegenüber dem Betroffenen blieb aus. Bereits 2010 hatte die Missbrauchskommission des Bistums nach Meldungen durch drei Betroffene recherchiert, damals erfolgte jedoch keine Veröffentlichung.

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Im Mai 2023 hatte das Bistum Münster Missbrauchsvorwürfe gegen den verstorbenen Priester Alfons Freistühler veröffentlicht. Freistühler war in den frühen 1960er Jahren Leiter des Petrinums in Brilon. Nach der Veröffentlichung meldeten sich viele weitere Betroffene und Hinweisgeber bei der Interventionsstelle des Bistums. Aufgrund der vielen neuen Meldungen wurde ein bereits bestehendes Dossier zu den Missbrauchsvorwürfen aktualisiert und vom Bistum veröffentlicht. Bereits Ende 2022 hatte sich ein Betroffener beim Bistum gemeldet, nachdem er die Studie gelesen hatte, die der Münsteraner Bischof Felix Genn Ende des letzten Jahres an alle Pfarreien im Bistum geschickt hatte. In dieser Studie fand der Betroffene keinen Hinweis auf Freistühler und wandte sich daraufhin an Propst Johannes Mecking, der den Kontakt zum Interventionsbeauftragten des Bistums Münster herstellte. Im Jahr 2021 hatte sich bereits ein weiterer Betroffener beim Interventionsbeauftragten gemeldet.

Das Dossier wurde vom Münsteraner Historiker Bernhard Frings erstellt und in Absprache mit der in Gründung befindlichen Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Münster veröffentlicht.

Schon früh auffällig geworden

Alfons Freistühler wurde 1914 in Ostwestfalen geboren. Nach dem Abitur trat er ins Paderborner Theologenkonvikt ein, um Priester zu werden. Er begann sein Theologiestudium im Sommersemester 1934 und setzte es in Wien und Szeged fort, bevor er es 1941 in Paderborn abschloss. Laut einem Personalblatt bei der NRW-Schulbehörde musste er seine Studien in Paderborn abbrechen, da sie den Nationalsozialisten nicht genehm waren. Nach seiner Rückkehr zu seinen Eltern setzte er seinen Weg zum Priestertum fort und absolvierte sein Noviziat im Benediktiner-Kloster Stift Göttweig in Österreich. Allerdings musste er das Kloster 1936 verlassen, da er mutmaßlich zu engen Kontakt zu einem Chormitglied hatte. Schließlich wurde er im März 1941 zum Priester geweiht.

Freistühler plante, nach seiner Priesterweihe in den Schuldienst zu gehen, und legte seine philologischen Examina ab. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges konnte er diesen Plan vorerst nicht umsetzen. Er arbeitete als Religionslehrer in verschiedenen Städten und legte 1952 in Münster die Lehramtsprüfung für höhere Schulen in den Fächern Religion und Geschichte ab. Er unterrichtete am Lüner Gymnasium und wurde 1963 zum Leiter des städtischen Gymnasiums Petrinum in Brilon ernannt. Es gab Bedenken bezüglich seiner Eignung für diese Stelle, die sowohl von staatlichen Schulbehörden als auch von der örtlichen Geistlichkeit geäußert wurden. Im Sommer 1966 eskalierte der Konflikt, als ein Vater eines Schülers Anzeige erstattete und eine Dienstaufsichtsbeschwerde einlegte. Weder die Staatsanwaltschaft noch die Schulbehörden sahen ausreichende Anhaltspunkte für ein Straf- oder Disziplinarverfahren. Das Ministerium antwortete damals: „Zu beurteilen, ob die misslichen Zustände an der dortigen (Anm. d. Red.: Briloner] Anstalt allein auf Herrn Freistühler zurückzuführen, oder ob sie als das Ergebnis eines planmäßigen Kesseltreibens gegen den damaligen Direktor Freistühler anzusehen sind.“, hieß es damals. Freistühler wurde im August 1969 an das Staatliche Gymnasium Theodorianum in Paderborn versetzt, wo er weiterhin unterrichtete.

Missbrauch in mindestens 25 Fällen

Laut Berichten von Betroffenen beging Freistühler zwischen ca. 1960 und den frühen 1980er Jahren sexuellen Missbrauch an mindestens 25 Kindern und Jugendlichen, darunter fünf Mädchen im Alter von ca. 10 bis 16 Jahren. Die mutmaßlichen Taten reichten von grenzüberschreitendem Verhalten über Nacktfotos bis zur Manipulation der Genitalien. Mehrere Betroffene berichteten von schweren psychischen Beeinträchtigungen. Die Eltern der betroffenen Kinder hatten aufgrund der Autorität, die Freistühler als Priester, Lehrer und Schuldirektor hatte, lange Zeit kein Misstrauen gegenüber seinen ungewöhnlichen Angeboten, wie Einzel-Nachhilfe oder gemeinsame Urlaube, entwickelt.

Ein junges Mädchen wohnte seit den frühen 1960er-Jahren in seinem Haushalt. 1963 wurde sie als Pflegetochter angenommen und 1974 adoptiert. Es gebe Anzeichen dafür, dass das Kind über einen längeren Zeitraum missbraucht wurde, sagt der Historiker Frings. Als Erwachsene erzählte sie wohl selbst von diesem Missbrauch, aber niemand glaubte ihr, heißt es in dem Dossier. Der Historiker Frings meint dazu: „Man kann jedenfalls annehmen, dass der vermutete Missbrauch einen wesentlichen Einfluss auf ihren späteren vermuteten Selbstmord hatte.

Jungen im Pfarrhaus nach der Messe missbraucht

Im Dossier wird außerdem erwähnt, dass Freistühler einen Jungen im Pfarrhaus nach der Messe missbraucht und ihn dann zum Schweigen verpflichtete, während er in der Kirche betete. Die Betroffenen gaben an, dass Freistühler seine herausgehobene Stellung ausnutzte, um sexuelle Übergriffe zu begehen. Zu den Vorwürfen und zu möglichen Mitwissern schreibt Frings: „Letztlich ist nur schwer aufzulösen, ob Freistühlers Umgang mit Schülern wie auch insgesamt mit Kindern und Jugendlichen im Kollegium eindeutig als sexuell übergriffig oder einfach als weiterer Bestandteil seines eigenartigen Charakters betrachtet wurde.“

Das Erzbistum Paderborn teilt auf Anfrage mit, dass es derzeit Kontakt zu einer Person hatte, die sich im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen aus den 60er Jahren gemeldet hat. Dies geht aus dem veröffentlichten Dossier des Bistums Münster hervor. Pressesprecher Thomas Throenle konnte jedoch noch keine konkreten Informationen zu diesem Kontakt liefern.

Das Erzbistum Paderborn betont, dass es in allen Fällen, die in seinen Verantwortungsbereich fallen, gemäß den Regelungen und Vorgaben der deutschen Bischöfe handelt und die Verantwortung übernimmt. Dies schließt auch das Anerkennungsverfahren ein, bei dem Verjährungsfragen keine Rolle spielen.