Madfeld/Brilon. Marvin Bürger hatte Borderline. Die Krankheit bringt ihn an seelische Grenzen. Er erzählt offen über den Kampf zurück in ein glückliches Leben.
Er ist 800 Kilometer am Stück Rad gefahren und 33 Stunden nicht vom Sattel gestiegen. Weil er mit knapp 15 Jahren eigentlich zu jung war, bekam er eine Ausnahmegenehmigung, um mit 4000 Sportlern beim Ötztaler-Radmarathon zu starten. Oft hat er seine Muskelkraft eingesetzt, um den Schwachen zu helfen. Hat Benefiz-Radtouren gemacht für kranke und behinderte Kinder und war als Extremsportler über die Grenzen des Sauerlandes bekannt. Vor achteinhalb Jahren hat Marvin Bürger ganz offen erzählt, dass er nicht nur die coole Sportskanone ist, dass er nicht nur an sein körperliches Limit geht. Dass er damals schon lange seine seelischen Grenzen überschritten hatte. Marvin war Borderliner. Durch seine Liebe zum Beruf, seine Hartnäckigkeit und Disziplin hat er seine Ängste und Sorgen aber inzwischen überwunden. Was macht Marvin Bürger heute, wie hat er das geschafft?
„Das Leben wirft uns zu Boden. Aber wir entscheiden, ob wir wieder aufstehen.“ Diesen Satz hat er sich schon damals auf seine rechte Brust tätowieren lassen. Es ist sein Lebensmotto, das ihm immer wieder auf die Beine geholfen hat. Damals vor achteinhalb Jahren berichtet er von seinen Problemen, von seinem selbstverletzenden Verhalten. „Wenn es mir schlecht ging, habe ich das gebraucht – so dringend, wie andere Drogen oder Alkohol.“ Marvin hatte damals Verlassensängste, Bindungsstörungen und konnte seinen Tag nicht strukturieren.
Feste Strukturen, die Freude an dem, was er tut, die Überzeugung, dass er darin wirklich gut ist und die Bestätigung, die er für seine Arbeit bekommt – all das hat bei Marvin dazu geführt, dass er sich und seine Krankheit heute komplett im Griff hat. Mit 19 Jahren rieten ihm die Ärzte, eine Frührente anzumelden, jetzt macht er gerade seinen zweiten Meister. „Seitdem ich als Dachdecker arbeite, lebe ich ohne Medikamente und kenne keine Klinik mehr von innen.“
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Der Weg bis dahin war lang, steinig und verlief nicht immer geradeaus. Eine Lehre zum Industriemechaniker brach er ab. Ein Jahr lang war er in ärztlicher Behandlung. Dann startete er eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. „Ich wollte als Trainer arbeiten, nicht als Kaufmann. Es war die reinste Quälerei.“ Als erneut ein längerer Klinikaufenthalt folgte, bekam der 28-Jährige die Kündigung. Ein guter Freund empfahl ihm: „Mach eine Lehre als Handwerker, das wird Dir gut tun!“ Er sollte recht behalten. Der Briloner machte ein Praktikum bei einem Dachdecker, wollte danach gern eine Klempner-Lehre beginnen, bekam aber dann schließlich im August 2017 eine Lehrstelle als Dachdecker. In mehrfacher Hinsicht ging es für ihn nun steil nach oben.
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Als Jahrgangsbester abgeschnitten
Wegen seiner guten Noten wurde ihm die Lehre auf zweieinhalb Jahre verkürzt. Die Gesellenprüfung schloss er als Jahrgangsbester mit der Note 1,7 ab und musste einige Monate warten, bis er in Eslohe die Meisterschule besuchen konnte. „Die Zeit habe ich sinnvoll genutzt. Ich habe in einem Fachbetrieb gearbeitet und wollte dort gern mein Know-how mit Schiefer vertiefen. Aber nachdem ich einige Tage auf dem Dach gewesen war, erkannten Chef und Kollegen sehr schnell, dass mir der Umgang mit Blech besonders gut liegt“, sagt der junge Handwerker heute. Nach einer weiteren Gesellenzeit bei dem Freund, der ihm den guten Tipp gegeben hatte, absolvierte Marvin schließlich neun Monate in Vollzeit seine Ausbildung samt Prüfung zum Dachdeckermeister. Der frisch gebackene Meister legte sich im Juni dieses Jahres einiges an Gerätschaften zu, mietete in seinem Heimatort Madfeld eine Lagerhalle an und machte sich als Ein-Mann-Betrieb selbstständig. Die Arbeit mit dem Blech ließ ihm aber keine Ruhe. Seit August drückt er erneut die Schulbank, um seinen Klempnermeister zu machen.
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„So ein Kleinbetrieb, das ist genau mein Ding. Die Aufgaben als Dachdecker machen wir sehr viel Spaß, aber ich würde mich gern vornehmlich auf die Arbeit mit Blech auf Dächern und an Fassaden konzentrieren.“ Marvin Bürger hat bei seiner Arbeit unterschiedliche Betriebsstrukturen kennengelernt. „In meiner kleinen Konstellation will ich qualitativ hochwertig und konzentriert arbeiten. Ich habe einen sehr hohen Anspruch an das, was ich tue. Und ich hoffe, ich kann künftig mit Leuten zusammenarbeiten, die ähnlich ticken wie ich.“ Mittelfristiges Ziel ist ein Mitarbeiter im Kleinbetrieb von Marvin Bürger.
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Privat und beruflich hat sich bereits eine sehr günstige Konstellation angebahnt. Auf der Meisterschule hat der 28-Jährige die Meisterschülerin Fabienne Ellermeier aus Kalletal kennengelernt, die eines Tages den elterlichen Dachdeckerbetrieb übernehmen möchte. Anfangs hat nur die Chemie zwischen den beiden gestimmt, dann hat’s gefunkt. „Inzwischen sind wir zusammen und können uns gut vorstellen, uns auch beruflich zu ergänzen“, sagt die junge Frau.
Gerade der Beruf des Spenglers, Blechners oder Klempners ist vom Aussterben bedroht. Spengler schützen Dächer und Fassaden vor Witterungseinflüssen wie Regen, Schnee, Hagel, Wind oder Sonne. Sie stellen Bauteile wie Rohre, Fensterbänke oder Kaminabdeckungen her. Die Arbeit mit Blech ist anspruchsvoll, ermöglicht kreativen Gestaltungsraum und erfordert Können und Geschick. „Das Schöne dabei ist, dass man zum Beispiel einem Haus ein ganz individuelles Gesicht, eine persönliche Note, eine eigene Handschrift geben kann. Als Spengler mache ich etwas, das nicht jeder kann. Das Material Blech ist langlebig und ruft danach, gestaltet und bearbeitet zu werden.“ Vielfach übernehmen heutzutage Dachdecker diese Aufgaben mit. „Ich möchte mich aber voll und ganz darauf konzentrieren. Ich habe schon viele Aufträge quasi als Subunternehmer für Dachdecker übernommen. Viele Ausschreibungen sind mittlerweile ganz konkret so formuliert, dass zum Beispiel eine Zink-Stehfalz gefordert ist. Das kann nicht jeder. Und da sage ich mir. Schuster bleib bei Deinen Leisten.“ Im Dezember macht Marvin Bürger seine zweite Meisterprüfung, dann will er mit seinem Kleinbetrieb ordentlich durchstarten. „Ich mag es, wenn der Kunde am Ende zu mir sagt: Genauso habe ich es mir vorgestellt. Es erfüllt mich, wenn ich nach so einem Tag müde, aber zufrieden nach Hause komme. Das ist mein Ding.“
Alles richtig gemacht
Das Rennrad aus Marvins Extremsportler-Zeit steht seit Jahren ungenutzt in der Küche. Marvin braucht es nicht mehr. Jetzt braucht er ab Dezember viele Aufträge – für seinen Betrieb und für sein Ego und als Bestätigung dafür: Alles richtig gemacht.
Bei Instagram findet man Marvin Bürger unter falztechnik_buerger. Seine Internetseite ist in Arbeit: www.falztechnik-buerger.de