Gevelsberg. Anja Oetzel aus Gevelsberg ist chronisch krank. Sie spricht über die Folgen und die Angst, die sie deswegen täglich begleitet.
„Die Angst ist da, dass es mit der nächsten Infektion wieder schlimmer wird“, sagt Anja Oetzel. Die 47-Jährige aus Gevelsberg leidet unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) – etwas, das sie auf ihre Corona-Erkrankung und infolgedessen auf Long-Covid zurückführt. Unter diesem Begriff werden längerfristige, gesundheitliche Beeinträchtigungen im Anschluss an eine SARS-CoV-2-Infektion zusammengefasst.
Für Anja Oetzel heißt das ganz konkret, dass sie seit Jahren nicht mehr arbeitet, sie schafft es laut eigener Aussage nicht mehr. Eigentlich ist sie Versicherungskauffrau. Wie es ihr täglich geht, beschreibt die Gevelsbergerin in etwa so: „Wie ein Akku, der immer bei 50 Prozent rumdümpelt, mal auf 55 Prozent steigt und dann aber wieder auf 40 fällt.“
Enorme Bandbreite
Angst begleitet jeden von uns – von Beginn unseres Lebens an bis zu seinem Ende. In unterschiedlicher Form, in unterschiedlicher Intensität – und geprägt durch sehr individuelle Perspektiven. Was dem einen Ängste bereitet, kann den anderen ganz kalt lassen.
In unserer Serie „Was uns Angst macht“ werden wir uns den gesamten November über mit dieser enormen Bandbreite des Themas beschäftigen. Ganz bewusst geht es dabei um sehr individuelle Ängste, etwa um Krankheiten und um deren Therapien. Aber genauso auch um die gesellschaftliche Angst in unsicheren Zeiten. Sowohl hier im Lokalteil Ihrer Zeitung als auch auf den Region-Seiten werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, Geschichten zu diesem Thema lesen, in denen Menschen ihre Geschichte erzählen, die immer auch die Wege aus diesen Ängsten aufzeigen sollen.
Aus Sorge davor, sich wieder anstecken zu können und weil ihr die Kraft fehlt, zieht sie sich zurück. „Ich gehe weniger unter Leute und bin immer noch sehr schnell reizüberflutet“, sagt Oetzel. Das und ihre berufliche Situation sorgen dafür, dass sie sich vor einem sozialen Abstieg fürchtet.
Ein anderer Umgang mit der Angst
Als würde sich etwas durch den Körper fressen – so hatte Anja Oetzel aus Gevelsberg ihre Covid-19-Erkrankung beschrieben. Das war im Jahr 2020, also schon zu Beginn der Pandemie. Sie sprach von Atemnot.
+++ Experte weiß: Vermeidung führt zu mehr Angst +++
Davon, dass es ihr immer schlechter gegangen sei. Sie nahm sogar das Wort Todesangst in den Mund. Ärztemarathon, Quarantäne, wochenlange Krankschreibung, letztlich die Genesung, Impfung. All das hat sie hinter sich gebracht. Gesund fühlte sie sich trotzdem nicht.
Schlaflosigkeit in der Nacht, Erschöpfung am Tag, Konzentrationsstörungen, kognitive Einschränkungen – seit Corona sind sie ihre täglichen Begleiter. Ihre Vollzeit-Arbeitsstelle reduziert sie zunächst. Aus einer Reha wird sie 2021 nach eigenen Angaben arbeitsunfähig wieder entlassen. Im Jahr darauf kommt es zur Aussteuerung durch die Krankenversicherung. Seitdem beschäftigt sich Anja Oetzel mit dem Thema Sozialleistungen.
Sie ging schon zur Psychotherapie, ließ sich von einem Neuropsychologen behandeln, hinzu kamen normale Arztbesuche und Sport – so gut es eben ging. „Letztendlich hat sich nicht wirklich etwas verbessert“, sagt Oetzel heute über ihren Gesundheitszustand. „Mein Umgang damit ist aber ein anderer. Ich versuche, es mir einfacher zu machen.“
Den eigenen Grenzen stärker bewusst
Sie sagt sich selbst häufig, dass es schon wieder besser wird. Irgendwann. „Ich weiß, dass es nicht mehr so wird wie vorher“, macht sie klar. „Aber es läuft jetzt alles viel bewusster. Ich bin mir meiner Grenzen mehr bewusst und organisiere meinen Tagesablauf strikter.“ Sie teilt sich ihre tägliche Energie genau ein, achtet darauf, was sie schafft und was nicht. Ruhephasen spielen dabei eine Rolle. „Wenn ich irgendwann mehr schaffe, ist das schön“, sagt Oetzel. „Aber wenn ich das nicht tue, geht die Welt davon auch nicht unter.“
Ihren Mundschutz hat sie im Herbst und Winter wieder jederzeit griffbereit, um sich vor Corona zu schützen. Soziale Kontakte beschränken sich auf die Familie oder das Frühstücken mit engen Freunden. Wer erkältet ist, bleibt zuhause. Konzerte oder dergleichen besucht sie nicht mehr.
Die Angst bleibt natürlich trotzdem, schleicht sich immer wieder ein. Zum Beispiel die Angst davor, von der Gesellschaft nicht mehr anerkannt zu werden. „Da hilft es auch nicht, wenn jemand sagt: ,Dann geh’ halt wieder arbeiten“, ärgert sich Oetzel. Mit ihrer beruflichen Situation gehen die finanziellen Sorgen einher. Die Preise sind gestiegen. Sie muss Strom, Gas und Lebensmittel zahlen. „Meine Ersparnisse sind draufgegangen, um die fehlende Arbeit aufzufangen“, gibt die 47-Jährige zu. Familiär bedingt habe sie außerdem umziehen müssen, der Krankheit wegen mithilfe einer Umzugsfirma. Das ging ebenfalls ins Geld.
Anja Oetzel fragt sich, was als Nächstes kommt. „Vor drei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass es mir mal so geht“, sagt sie. Sie weiß aber auch: „Die Angst darf nicht so groß werden, dass ich handlungsunfähig werde. Ich lebe ja noch. Ich habe Corona überlebt und andere Sachen danach auch.“