#wirsindmehr hat unseren Kolumnisten nachdenklich gemacht. Er erklärt, warum er die Jugend in Wittgenstein im Rückblick als Privileg empfindet.

Zurück aus Chemnitz. 3.30 Uhr zeigt das Display des Autos mit SI-Kennzeichen an, als in der Früh der Motor abgestellt wird. 65000 Menschen zeigten in Chemnitz Rechtsdruck die rote Karte, während zugleich mit Bedacht und Respekt Daniel H. gedacht wurde, der vor einigen Tagen bei einer Messerattacke ums Leben kam.

Was vor Ort schnell fühl- und hörbar wurde war, dass viele der 65000 Menschen selbst aus Chemnitz kamen. Man spürte das Dankeschön der einheimischen Menschen für die Unterstützung der tausenden Angereisten und der Organisatoren selbst – die letzten Tage in ihrer Stadt hatten vielen schwer zugesetzt.

65000 Menschen repräsentierten weder Linksradikalismus noch das Sprachrohr einer bestimmten Partei: Alte und Junge, Familien mit Kleinkindern, Hip-Hopper neben Punks, Studierende und Rentner neben Mittfünfzigern in AC/DC-Shirts.

Wenn man aus Wittgenstein stammt, kann man sich Rechtsradikalismus einer Größenordnung wie in Chemnitz schwer vorstellen. Der aus der Stadt stammende Künstler Trettmann singt in seinem Song „Grauer Beton“: „Seelenfänger schleichen um den Block und machen Geschäft mit der Hoffnung. Fast hinter jeder Tür lauert ‘n Abgrund, nur damit du weißt, wo ich herkomm’.“

Auf 3,5 Kilometer zurück zum Parkplatz wirkten diese Zeilen tief. Es geht dort auch um eine Jugend, auf die nichts und niemand wartet. Mir wurde bewusst, welches Privileg und welches Leben mir Sport- und Kulturvereine in meiner Kindheit ermöglichten – wo keine Seelenfänger, sondern Ehrenamtliche mit Herz warteten.

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Frühere Beiträge im „Pass in die Gasse“:
# 136: TuS Diedenshausen: Von wegen Spielermangel
# 135: Ohne Tornetz keine Erlösung
# 134: Nach dem ersten Spieltag: Routenplanung abgeschlossen?
# 133: Per App auf die Ersatzbank
# 132: Torlos im Friseursalon: Vorbilder wie Robert Nikolic

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WP-Kolumnist Heiko Rothenpieler hat kürzlich das Buch „Die Poesie des Fußballs“ veröffentlicht. Das Interview dazu gibt es hier.