Herzogenaurach. Julian Nagelsmann hat die Fußball-Nation wiederbelebt und ist nun Maßstab für kommende Bundestrainer. Wie ist ihm das gelungen?
Was hätte wohl im September 2023 in der Jobausschreibung des Deutschen Fußball-Bundes gestanden, wenn der Beruf des Bundestrainers ein gewöhnlicher wäre? Zum Tätigkeitsbereich gehören Spielvorbereitung und Kaderzusammenstellung. Mitbringen sollte der Anwärter fachliche Qualfikation im Hochleistungssport. Kommunikativ, teamfähig und belastbar muss derjenige bitte auch sein. Geboten wird ein spannendes Arbeitsumfeld mit guten Entwicklungsmöglichkeiten.
Doch der Job des Bundestrainers ist eben kein normaler. Er ist mehr Amt als Beruf. Man wirkt noch mehr, als man arbeitet. Und spätestens jetzt ist Julian Nagelsmann, seit zehn Monaten der wichtigste Trainer der Fußballnation, der Maßstab für seine Nachfolger. „Er hat das Amt des Bundestrainers für mich auch ein Stück weit neu definiert in den vergangenen Wochen, so wie er aufgetreten ist. Er hat eine unglaubliche Energie ausgestrahlt, einen unglaublichen Spirit“, schwärmte Bernd Neuendorf. Der DFB-Präsident wählte diese Worte wohlgemerkt nicht etwa nach Gewinn des angepeilten Titels bei der Heim-Europameisterschaft, sondern im Rahmen der Aufarbeitung des bitteren Ausscheidens im Viertelfinale gegen Spanien mit dem 1:2 nach Verlängerung.
DFB-Team: Julian Nagelsmann hat einen Scherbenhaufen zusammengekehrt
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Allein ob des sportlichen Abschneidens wäre eine Würdigung Nagelsmanns zulässig gewesen. Der 36-Jährige hatte im September des vergangenen Jahres das Himmelfahrtskommando anvertraut bekommen, den Scherbenhaufen Nationalef nach dem 1:4-Debakel gegen Japan und der Entlassung von Hansi Flick zusammenzukehren. Der erste Stimmungsaufschwung verpuffte, weil auch Nagelsmann seinen ursprünglichen Weg verließ, aus den Grundlagen des Fußballs die alte Stärke wiederzufinden. Er experimentierte herum mit Kai Havertz als Linksverteidiger. Erst im März kehrte er durch die Rückkehraktion von Toni Kroos in die passenden Bahnen zurück.
Es sollte eine EM folgen, die eine neue Lust am DFB-Team weckte, nach der man wieder zur Nationalelf stehen konnte und wollte – trotz aller kleinen und großen gesellschaftspolitischen Gräben. Weil Jamal Musiala und Florian Wirtz zauberten, weil Nagelsmann neue Helden für das Land fand und die alte Garde um Kroos, Manuel Neuer, Thomas Müller sowie Ilkay Gündogan ein vielleicht letztes Hurra erleben ließ. Kroos hört auf, die Zukunft der anderen ist noch offen. Fußballerisch gelang Nagelsmann viel, aber nicht alles – was angesichts der Kürze der Zeit der Mission nicht zu erwarten war.
DFB-Team: Julian Nagelsmann wird mehr verziehen als seinen Vorgängern
In den Turnierspielen jedoch konnte Nagelsmann immer wieder auf taktische Anforderungen reagieren. Unschlüssig blieb nur, warum der 36-Jährige erst darauf pochte, vier Torhüter mit zur EM zu nehmen, nur um dann doch wieder einen zu streichen, weil ihm andere Positionen (zu Recht) wichtiger schienen. Und warum Emre Can zunächst erst gar nicht im Kader stand. Der Dortmunder Sechser fehlte im ersten Aufgebot, wurde für den erkrankten Münchener Aleksandar Pavlovic nachnominiert – und stand dann plötzlich im Viertelfinale gegen Spanien in der Startelf. Nagelsmann sah dies als taktischen Clou an, für den er das bis dahin stabile Zentrum, bestehend aus Toni Kroos und Robert Andrich, opferte. Es waren letztlich Nebenthemen, was auch daran liegt, dass man dem noch immer recht neuen Cheftrainer mehr verzeiht als seinen Vorgängern, die viele Beobachter ermüdeten.
Nagelsmann hat sich diesen Kredit aber selbst erarbeitet, indem er das gelähmte Fußballland belebt hat: mit jugendlicher Frische im verkrusteten DFB; mit Authenzität statt Inszenierung, die ihm bei Bayern München zum Verhängnis geworden ist; mit Interviews in Jogginghosen statt Nadelstreifenanzügen. Besonders jedoch mit bemerkenswerten, staatstragenden Worte wie am Samstag zur EM-Abschlusspressekonferenz, bei der Nagelsmann gegen die Tränen ankämpfen musste.
Bundestrainer Julian Nagelsmann mit staatstragenden Worten
„Ich wünsche mir für dieses Land, dass wir verstehen, dass es gemeinsam einfach besser geht“, sagte er. „Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig, als wenn er es alleine macht. Wenn wir immer nur in Tristesse verfallen und alles grau, alles schlecht ist, dann wird sich keiner verbessern. Das gilt im Fußball wie in der normalen Gesellschaft. Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen, es gab eine Symbiose zwischen Mannschaft und den Menschen im Land. Ich hoffe, dass wir es nachhaltig hinkriegen, die Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen.“
Als großer Gewinner der Europameisterschaft – auch ohne silberne Trophäe in den Händen – wird Julian Nagelsmann mindestens bis zur Weltmeisterschaft 2026 mit gutem Beispiel vorangehen. Und gemeinsam mit der Nationalelf als Botschafter eines vielfältigen Landes auftreten.
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