Stuttgart. Barnabas Varga bleibt nach einem Zusammenprall regungslos liegen. Die Ungarn beklagen die zu langsame Hilfe der Ärzte.
Noch in der Nacht auf Montag vermeldete der ungarische Fußballverband, dass der Zustand von Barnabas Varga stabil sei. Der Stürmer, 29 Jahre alt, habe eine Gehirnerschütterung und mehrere Brüche im Gesicht erlitten und müsse höchstwahrscheinlich operiert werden.
Man musste zuvor im Stuttgarter Stadion nur den Worten von Roland Sallai lauschen, um zu verstehen, durch welche emotionalen Tiefen und Höhen die Ungarn bei ihrem 1:0-Erfolg über Schottland gegangen waren. Ein Erfolg, der die Chance auf das Achtelfinale als einer der vier besten Gruppendritten erhält. Der Profi des SC Freiburg wählte Adjektive wie „furchtbar“ und „grausamen“, berichtete aber auch, wie „unbeschreiblich“ die Glücksgefühle beim turbulenten Schlussakkord dieser Begegnung gewesen seien.
EM 2024: Torschütze Kevin Csoboth hält das Trikot von Barnabas Varga in die Luft
Dieser Schluss war ein Beleg dafür, dass im Fußball selbst lange trostlose Spiele durch nur einen Moment eine Eruption der Hochgefühle erzeugen können. In Stuttgart lief die zehnte Minute der Nachspielzeit, als die ungarische Elf nach einem schottischen Eckball ein letztes Mal nach vorne wetzte. Sallai flankte, Kevin Csoboth nutzte seinen rechten Fuß für einen überlegten Schuss in die linke Ecke. Die Fans des kleinen Landes an der Grenze zu Österreich fielen auf der Tribüne fast übereinander. Ersatzspieler, Betreuer rannten auf den Rasen, irgendwo unter ihnen lag der Torschütze Csoboth, der aber, und dies verdeutlichte die schwankenden Gefühle der Ungarn, anschließend ein Trikot mit der Nummer 19 in die Luft hielt. Das von Barnabas Varga.
IGEEEEN!!!!
— András Schäfer (@schafer_andras) June 23, 2024
This one is for you, Barni! ❤️ pic.twitter.com/Nuhy3DS9al
In der 68. Minute war der Stürmer von Ferencvaros Budapest mit dem Kopf in Richtung des Balles gesprungen, dabei knallte er mit Torhüter Angus Gunn zusammen und klatschte unglücklich auf den Rasen. Die Mitspieler erkannten sofort, dass Varga bewusstlos wirkte, schon in der Luft hatte er gekrampft. Helfer und Helferinnen bauten mit Stoffdecken einen Sichtschutz um den Fußballer, minutenlang wurde er behandelt, bis er unter dem Applaus aller 54.272 Fans ins Stadioninnere getragen wurde. Sofort schnellten Erinnerungen an 2021 hoch, als der Däne Christian Eriksen im Gruppenspiel gegen Finnland einen Herzstillstand erlitten hatte und die entsetzten, sichtlich beängstigten Spieler eine Sichtschutzmauer um ihren Routinier bildeten.
Nun ein ähnliches Szenario bei Barnabas Varga. „Ich war einer der Ersten, der da war. Und ich war selber schockiert. Ich habe probiert, ihn auf die Seite zu legen, was eigentlich die beste Sache ist in solch einer Situation. Er hat nicht richtig Luft bekommen“, erzählte Kapitän Dominik Szoboszlai und beklagte, dass es zu lange gedauert habe, bis Hilfe auf den Platz gekommen sei. „Ich habe keine Ahnung, was mit dem Protokoll ist, ob die Leute nicht auf den Platz laufen dürfen, wenn wir Hilfe brauchen. Wir müssen daran etwas ändern. Wir müssen das viel schneller machen.“
Schottland-Trainer Steve Clarke schimpft über einen nicht gegebenen Elfmeter
Ähnliche Vorwürfe erhob Trainer Marco Rossi. Die Ärzte seien zu spät gekommen, meinte er. „Sie haben wahrscheinlich nicht sofort gemerkt, dass es so gefährlich war.“ Die Sorgen seien riesig gewesen, daher könne man von Glück sprechen, dass sich Barnabas Varga nicht mehr in einem kritischen Zustand befinde. „Sollten wir weiterkommen, wird er aber mehr nicht Teil der Mannschaft sein können.“
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Zur Erzählung dieser Begegnung gehört, dass sie sich nach dem Schockmoment veränderte, sie wurde wilder, die Chancen nahmen zu. „Wir haben selbstverständlich für ihn gekämpft, wir wollten für ihn gewinnen“, sagte Roland Sallai. Durch den Sieg hat seine Mannschaft drei Punkte und kann hoffen, sich für das Achtelfinale zu qualifizieren. Die Schotten hingegen verabschieden sich aus Deutschland, obwohl auch sie Gelegenheiten hatten, das enge Spiel für sich zu entscheiden. Trainer Steve Clarke beschwerte sich zudem über einen nicht gegebenen Elfmeter. Stuart Armstrong war im ungarischen Sechzehnmeterraum hingefallen, Willi Orban hatte ihn berührt (78.). „Das war zu Hundertprozent ein Elfmeter, jemand muss mir erklären, warum das keiner war“, schimpfte Clarke. Er habe noch andere Worte, „die ich jetzt aber nicht benutzen werden“.
Die Ungarn waren viel mehr in Gedanken bei Barnabas Varga statt im Achtelfinale. Dominik Szoboszlai, bedankte sich nach dem Schlusspfiff lange bei den eigenen Fans, die das Stadion gar nicht mehr verlassen wollten. Auch er trug dabei ein Trikot mit der Nummer 19. Bei allen Glücksgefühlen ist die Gesundheit eines Teamkollegen am Ende doch noch mehr wert.