Herzogenaurach. 1996 triumphierte Thomas Helmer mit Deutschland bei der EM in England. Der frühere Abwehrspieler erläutert hier das Erfolgsrezept.
Dieser Tage wird Thomas Helmer wieder häufiger auf den Sommer des Jahres 1996 angesprochen. „Das Elfmeterschießen gegen England, das Golden Goal, der Bundeskanzler in der viel zu kleinen Kabine nach dem Finale, die Queen, die vor dem Anpfiff auf den Rasen kam, obwohl wir endlich Fußball spielen wollen – da gibt es einige Momente, die mir immer in Erinnerung bleiben werden“, erinnert sich Helmer im Gespräch mit dieser Redaktion zurück.
Denn am Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft mit dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland (21 Uhr/ZDF). Seit 28 Jahren wartet die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes darauf, wieder den silbernen Pokal in die Luft stemmen zu dürfen. Helmer, 59, war Abwehrspieler im Team, das 1996 in England wider aller Erwartungen den Titel holte.
DFB-Team bei der EM 1996 mit Verletzungsmisere
Die DFB-Elf wurde damals von einer Verletzungsmisere heimgesucht. Kapitän Jürgen Kohler, der sich etwa ein Dreivierteljahr später den Rang eines Fußball-Gottes ergrätschen sollte, verletzte sich im Auftaktspiel gegen Tschechien am Innenband und fiel für das gesamte Turnier aus. Mario Basler holte sich eine Blessur im Training, Steffen Freund riss sich vor dem denkwürdigen Elfmeterschießen gegen England das Kreuzband. Jürgen Klinsmann und damit ganz Deutschland zitterten bis kurz vor Anpfiff des Endspiels darum, dass die Muskelfasern der Belastung standhalten konnten. Sie schafften es.
„Es gab schon den Moment, in dem wir uns mal angeschaut und gesagt haben: Mensch, das kann doch nicht wahr sein“, sagt Helmer. „Die Massagebank war unser Hotspot. Wir haben dann immer für denjenigen gespielt, der sich gerade verletzt hat, und versucht, so weit wie möglich zu kommen. Diese Trotzreaktion haben wir durch das Turnier geschleppt.“
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Und es wurde ein Mythos geboren: Der Star ist die Mannschaft. „In dem Fall war es genau das Erfolgsgeheimnis. Einer nach dem anderen ist verletzt ausgefallen, die Mannschaft ist in diesem Moment zusammengerückt und hat zusammengehalten“, erklärt Helmer. Fünf Dortmunder und sieben Bayern-Profis, zu denen auch der Ex-BVB-Verteidiger Helmer zählte, hätten ihre sportliche Rivalität der 90er-Jahre ruhen lassen. „Wir haben das gebraucht“, sagt Helmer. „Denn spielerisch waren wir nicht die beste Mannschaft.“
DFB-Team 1996 mit klarer Struktur uns Stabilität
Aber die Auswahl von Bundestrainer Berti Vogts hatte eine klare Struktur und Stabilität. Mit Libero Matthias Sammer, Europas Fußballer des Jahres und bester Spieler der EM, den Staubsaugern vor der Abwehr um Steffen Freund und Dieter Eilts, und Stürmern, die für damalige Verhältnisse viel mit nach hinten gearbeitet hätten. „Das ganze Verhalten war gut“, betont Verteidiger Helmer. „Weil wir vorne gut besetzt waren, wussten wir, dass wir uns immer darauf verlassen konnten, selbst ein Tor zu schießen.“ Und an dieser Stelle geht es in die Gegenwart, in der es so manche Parallele gibt.
Die deutsche Nationalmannschaft wackelte auch jüngst unter Bundestrainer Julian Nagelsmann, der im vergangenen Jahr erst defensive Stabilität als höchstes Gut vermerkte, um dann relativ schnell und frustriert festzustellen, dass er doch keine „Verteidigungsmonster“ erschaffen könne. „Ich habe sie gut gekitzelt, jetzt sind sie da“, meinte Nagelsmann kürzlich und grinste dabei schelmisch. Nur zwei Gegentore seit März, die Tendenz geht in die richtige Richtung, auch wenn die Deutschen zuletzt gegen Griechenland erstaunlich viele Räume anboten. „Wir haben uns im Gegenpressing extrem gesteigert“, sagte Nagelsmann zuvor. „Wir haben uns im Abwehrverhalten der Kette gesteigert, was das Verteidigen der Tiefe betrifft. Wir haben auch schon ein, zwei Verteidigungsmonster.“
DFB-Team hat zwei starke Innenverteidiger
Auch Thomas Helmer hat das zufriedenstellend zur Kenntnis genommen. „Wir haben eine sehr stabile Achse“, lobt er. Mit Stratege Toni Kroos und dessen Bodyguard Robert Andrich. Und den zwei Innenverteidigern Antonio Rüdiger und Jonathan Tah. „Sie sind von der Statur her sehr präsent und dominant, beide schnell und zweikampfstark und bringen auch für die Spieleröffnung alles mit“, sagt Helmer. „Tah ist dazu noch relativ torgefährlich – da gibt es nicht viel zu meckern. Sie müssen nur noch harmonieren. Ich bin mir sicher, dass sie das auch werden.“
Vorne soll das Techniker-Trio mit Kapitän Ilkay Gündogan, Florian Wirtz und Jamal Musiala für Furore sorgen. Die zweite wichtige Komponente neben der defensiven Stabilität sei die offensive, individuelle Klasse, so Helmer. „Wenn wir die ausspielen“, meint der Europameister von 1996, „reden wir ein Wörtchen um den Titel mit.“