Hagen. Hunderttausende demonstrieren wegen des Potsdam-Treffens gegen die AfD. Beeindruckt das die Partei? Das sagt ein Hagener AfD-Vertreter.
Im Gegensatz zu dem, was seit Wochen auf den Straßen passiert, ist dieses Zeichen des Protests gegen die AfD klein und nur noch schlecht zu erkennen: ein Stinkefinger unter dem Parteinamen der Alternative für Deutschland, gemalt auf ein Schild im Aufzug im Hagener Rathaus.
Hier befinden sich die Räume der AfD-Ratsfraktion. Die Hagener fuhren bei den vergangenen Kommunalwahlen 2020 das zweitbeste Ergebnis für die Rechtsaußen in NRW ein (9,3 Prozent). Zum Gespräch empfängt Fraktionschef Michael Eiche, früher SPD-Mitglied, von Beruf Sachbearbeiter im Jobcenter.
Seit Wochen richten sich Proteste auch gegen seine Partei und damit gegen ihn - auch in seiner Heimatstadt Hagen. Welche Wirkung entfalten diese Demonstrationen? Lösen sie bei den Rechtsaußen eine Mischung aus „Panik“ und „Triumph“ aus, wie die AfD-Expertin Paula Tuschling erklärt?
Michael Eiche, der sich als „repräsentativ“ für seine Partei beschreibt, kommt zu einer anderen Erklärung.
Remigration? Ein „ganz normaler Begriff“
Ausgelöst durch die Berichterstattung des Recherchenetzwerks Correctiv über das Treffen von Potsdam, bei dem in Anwesenheit unter anderem von AfD-Mitgliedern über eine „Remigration“ von Menschen auch mit deutscher Staatsbürgerschaft gesprochen worden sein soll, demonstrierten in den vergangenen Wochen insgesamt Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und auch gegen die AfD.
Für Michael Eiche ist das alles relativ.
Der 59-Jährige, da wählt er eine bekannte AfD-Strategie, verweist gerne auf das Parteiprogramm, das sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekenne, auch wenn es um das Treffen von Potsdam und eine „Remigration“ geht. „Wenn in den Gesetzen steht, dass jemand nicht abgeschoben werden kann, weil er einen deutschen Pass hat, dann ist das so. Wir können doch in Deutschland nach unserer Geschichte nicht jemanden staatenlos machen. Das sind Diskussionen um des Kaisers Bart“, sagt Eiche, der das Wort Remigration als „ganz normalen Begriff“ bezeichnet, der „für eine Migration in die andere Richtung benutzt“ werde.
Paula Tuschling hingegen, Politikwissenschaftlerin der Universität Bonn, erkennt hier den Versuch der Relativierung. Die AfD wolle den Begriff „Remigration“ im Nachhinein anders deuten („framen“). „Demnach sollen ‚gut integrierte‘ Menschen mit Migrationshintergrund angeblich nicht aus Deutschland vertrieben werden. Ich halte das für unglaubwürdig, weil die Correctiv-Recherchen gezeigt haben, was auf dem Treffen von Potsdam besprochen worden ist: Dass es dabei konkret um die Zielsetzung ging, Deutschen mit Migrationshintergrund, die aus Sicht der rechtsextremen Akteure nicht ausreichend in Deutschland integriert leben, ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie aus Deutschland zu vertreiben“, sagt Tuschling und erklärt: „Es wäre glaubwürdig, wenn die AfD anerkennen würde, dass es rechtsextremistische Strömungen in der Partei gibt. Aber das wird sie nicht tun, denn dann müsste sie 20, 30 Prozent ihres Wählerpotenzials aufgeben.“
Ampel-Krise mit Demonstrationen verknüpfen
Relativ ist für Michael Eiche auch der Gegenwind der vergangenen Wochen. Hunderttausende demonstrieren gegen sie - höre sich wirklich viel an, sagt der Hagener AfD-Funktionär, „man denkt jetzt, die halbe Welt beziehungsweise halb Deutschland ginge gegen die AfD auf die Straße. Das ist aber rechnerisch überhaupt nicht so“.
Die Zustimmung für die Demonstrationen gegen seine Partei sei so groß (eher: so klein) wie der Rückhalt der Bundesregierung in Umfragen. Hinzu komme, dass 80 Prozent der Bevölkerung die Demonstrationen der Landwirte positiv bewertet hätten, aber nur 37 Prozent dies tun würden im Falle der Proteste gegen die AfD.
Auf Paula Tuschling wirkt der von Eiche genannte Wert - jene 37 Prozent - „ausgedacht“. Eiche verbinde die Umfragewerte der Bundesregierung (etwa 37 Prozent) und das sinkende Vertrauen in die Ampel mit Demonstrationen gegen die AfD. „Das soll ablenken und Misstrauen in die Demonstrationen bewirken: Wenn man der Ampel nicht vertrauen kann, warum sollte man dann den Enthüllungen zum Potsdam-Treffen und den Demonstrationen trauen?“, sagt die AfD-Expertin.
Widerspruch wird auch von Jan Eckhoff erhoben. Er ist Mitglied der Grünen in Hagen, hat die Demonstration gegen Rechtsextremismus Ende Januar in Hagen mitorganisiert, an der laut Polizeischätzung rund 5000 Menschen teilnahmen. Eine „offensichtliche Mehrheit“ demonstriere gegen die AfD, Michael Eiche aber versuche das kleinzureden, sagt Eckhoff: „Die Demonstrationen haben stattgefunden, weil immer mehr Menschen die Bauernfängerei der AfD erkennen, weil immer mehr Menschen erkennen, dass die AfD unter einem demokratischen wirkenden Deckmäntelchen versucht, unsere liberale Demokratie auszuhöhlen. Für welches andere Thema gehen so viele Menschen auf die Straße?“
Eiche sieht „Anti-AfD-Kampagne im Superwahljahr“
Eine weitere wesentliche Einschätzung von Michael Eiche zu den Protesten lautet: Das, was als Demonstration gegen Rechtsextremismus angefangen habe, sei immer mehr zur „Anti-AfD-Kampagne“ geworden. Denn: Das „Superwahljahr“ 2024 habe begonnen, in dem unter anderem die Europa- sowie in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die Landtagswahlen anstehen.
„Es geht nur um die Fleischtöpfe, es geht nur darum, dass es in diesem Superwahljahr zum größten Mandatsverlust für die etablierten Parteien kommen wird seit Gründung der Bundesrepublik“, sagt Eiche und erklärt: „Ich kann schon nachvollziehen, dass die hyperventilieren.“
Neben Bürgern und Politikern anderer Parteien haben sich zuletzt allerdings auch Unternehmer gegen die AfD positioniert, sogar europäische Rechtspopulisten wie die Französin Marine Le Pen oder die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni gingen auf Abstand zu den deutschen Rechtsaußen.
Hat die AfD den Bogen also überspannt? „Der Bogen ist tatsächlich überspannt worden“, sagt Eiche, „aber von der anderen Seite - und das wird nach hinten losgehen. Die Leute merken mittlerweile, dass das Framing gegen die AfD zunimmt, weil wir im Wahljahr sind.“
Futter für das „Opfer-Narrativ“ der AfD
Jan Eckhoff wertet diese Aussagen von Eiche als Versuch, „das Opfer-Narrativ zu füttern“, dass also angeblich alle gegen die AfD arbeiten. Die Menschen gingen jedoch auf die Straße, weil die AfD die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedrohe - „und nicht, weil die etablierten Parteien sie aufgerufen hätten“, sagt der Grüne.
Auch Politikwissenschaftlerin Paula Tuschling, die in Eiches Aussagen zentrale Kommunikationsmuster der AfD erkennt, erwähnt das „Opfer-Narrativ“ der Rechtsaußen. Zudem sieht sie bei dem moderateren Teil der Partei, der Regierungsverantwortung anstrebe, „Panik“. Schließlich seien die Demonstrationen eine Reaktion auf das Treffen von Potsdam, durch das die Verbindung von Teilen der AfD - die sich juristisch gegen die Einstufung des Verfassungsschutzes als Verdachtsfall wehrt - zum Rechtsextremismus offensichtlich geworden sei.
„In der AfD gibt es die Sorge, dass dies zu Wahlverlusten und stärkeren Einschränkungen durch den Verfassungsschutz führt“, erklärt Tuschling. Ausdruck dieser Panik seien auch interne Unstimmigkeiten. So sei Co-Parteichefin Alice Weidel nach der Entlassung ihres Referenten Roland Hartwig, der am Treffen von Potsdam teilgenommen haben soll, „intern massiv kritisiert und als Verräterin bezeichnet worden“.
Demonstrationen könnten AfD sogar helfen
Andererseits gebe es auch Triumphgefühle bei gewissen Kräften in der AfD, weil die Proteste der Partei massiv Aufmerksamkeit brächten. Zudem könnte die AfD die Demonstrationen für ihr eigenes Framing nutzen: alle gegen einen. So wichtig die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus seien - „die Frage ist, ob es klug ist, dass auf Demonstrationen teilweise Anti-AfD-Stimmung gemacht wurde“, sagt Tuschling. Außerdem erreichten die Demonstrationen nicht die AfD-Kernwählerschaft.
Zweifel hat die AfD-Expertin auch an der Wirkung der Potsdam-Enthüllungen und der Demonstrationen auf Meinungsumfragen. Zwar habe die AfD in diesen Erhebungen an Zustimmung eingebüßt, „aber ich wäre vorsichtig, ob das langfristig so bleibt“.
Hinzu komme das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Es könne sein, dass Wahlberechtigte unabhängig von den Correctiv-Recherchen zum Potsdam-Treffen von der AfD zum BSW gewandert seien. „Ich würde die Umfragen daher nicht überbewerten“, sagt Tuschling.