Brilon. Berufssoldat Armin Witczak verliert durch eine Blutvergiftung Beine und Hände. Er sagt: „Ich habe geheult ohne Ende.“ Aber nie aufgegeben.
An der Wand hinter dem Esstisch hängen gerahmte Fotos von damals. Die Kinder, als sie jung waren und der Papa noch ganz gesund. Armin Witczak (55) ist allein zu Hause und kurz in der Küche verschwunden, um sich einen Kaffee zu machen. Um seine Beine aus Metall schleicht sein Hund Socke und bellt. „Nein“, sagt Witczak mit fester Stimme, „nein, noch ein Leckerli gibt’s nicht.“ Es vergehen ein paar Sekunden, dann hört man ihn sanft sagen: „Na, gut, hier, eins noch.“ Zurück im Wohnzimmer zuckt er mit den Schultern. „Er hat sich gestern an der Zehe verletzt und braucht Trost.“
„ich habe in der ersten Zeit oft an Suizid gedacht“
Schmerzen und die Suche nach Trost sind Themen, die Armin Witczak gut kennt, viel zu gut. Die körperlichen Schmerzen, die seelischen, die nie ganz heilen. So wirkt es jedenfalls, wenn er redet. „Ich habe in der ersten Zeit oft an Suizid gedacht“, sagt er leise und schweigt kurz. Als wenn das ein Satz wäre, den man so einfach sagen könnte. „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich für irgendwen noch einmal nützlich sein kann.“ Nicht für seine Frau, nicht für die beiden Söhne, damals sieben und vierzehn Jahre alt. „Ich fühlte mich wie Ballast.“
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Sechs Jahre ist das her. Sechs Jahre, in denen viel geschehen ist, sechs Jahre, die Kraft gekostet haben, aber nun doch auch zu etwas führen: zurück ins Leben und zu einem Moment, auf den Armin Witczak sich freut wie lange nicht: Der Mann aus dem Briloner Örtchen Messinghausen wird an den Invictus Games im September in Düsseldorf teilnehmen, eine Art Olympische Spiele für versehrte Soldaten weltweit. Er startet im Schwimmen, Kugelstoßen und Tischtennis. Und das, obwohl ihm beide Unterschenkel fehlen und beide Hände. „Wenn ich an die Invictus Games denke, bekomme ich Gänsehaut“, sagt er und seine Augen glänzen wegen des Wassers, das sich in ihnen zu sammeln scheint.
Meningokokken-Sepsis: Zustand verschlechtert sich innerhalb von Stunden
Witczak wird in den 1990er Jahren Berufssoldat, von seinen sechs Auslandseinsätzen im Kosovo, in Afghanistan und Mali kommt er stets unversehrt nach Hause. Das war ja stets seine Sorge, wenn er wieder los musste, wenn er von der Familie getrennt wurde, um das Material der Truppe vor Ort zu überprüfen. Kein Dienst an der Waffe. Trotzdem: „Das ist immer eine Reise ins Ungewisse.“
Doch die Reise mit den größten Ungewissheiten beginnt im Mai 2017 zu Hause, als an einem Sonntag plötzlich Fieber und Schüttelfrost einsetzen. Er denkt an eine Grippe. Aber sein Zustand verschlechtert sich innerhalb von Stunden dramatisch.
Fahrt ins nächste Krankenhaus.
Erbrechen.
Organversagen.
Koma.
Diagnose: Meningokokken-Sepsis. Er wird ins Bundeswehrkrankenhaus nach Koblenz, später in die Uni-Klinik Hannover verlegt.
Bis auf Hirn und Herz versagen alle Organe
„Wie ich mir das eingefangen habe, kann mir bis heute keiner sagen“, berichtet Witczak. Ein Mückenstich? Ein Zeckenbiss? Sechs Wochen vorher ist er am Nacken operiert worden. Hängt das irgendwie zusammen? Die Blutvergiftung breitet sich im Körper aus, die betroffenen Körperteile werden schwarz, als seien sie verbrannt. „Bis auf Herz und Hirn sind alle Organe ausgefallen“, sagt Witczak. „Ich habe mehr oder weniger nur dank der Maschinen gelebt.“
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Die Unterschenkel sind betroffen, die Hände, das Gesicht. Mehr als 20 Mal wird er operiert. Gliedmaßen werden abgetrennt, Haut transplantiert. Etliche Wochen liegt er im Koma. Die Ärzte, sagt er, seien erstaunt über seinen Fall gewesen. „Weil ich überlebt habe.“ Aber das ist vermutlich nicht einmal seine größte Leistung.
Als er im vergangenen Jahr zum ersten Mal von den Invictus Games hört, schaltet er den Laptop an und schaut sich Videos im Internet von den bisherigen fünf Austragungen in England, den USA, Australien, Kanada und den Niederlanden an – und er sieht warum die von Prinz Harry 2014 ins Leben gerufenen Spiele ihren Namen tragen: Invictus bedeutet so viel wie unbezwungen. Schwimmer mit einem Arm, blinde Sportler, Läufer mit Sauerstoffgerät. „Ich war total geflasht“, sagt Armin Witczak. Er klingt, als habe er kaum noch daran geglaubt, so etwas spüren zu können.
Unendlich dankbar für die Hilfe der Bundeswehr
Monatelang lag er auf der Intensivstation, niemand unter 16 Jahren durfte ihn besuchen. Die Zeit im Koma musste er verarbeiten, weil er nicht mehr wusste, was er geträumt hatte und was Wirklichkeit war. „Ich habe geheult ohne Ende.“
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Die Reha schien unendlich. „Ich musste alles neu lernen.“ Aber dass ihn die Bundeswehr nicht fallen ließ, dass sie sich um seine Familie kümmerte, dass er weiter Berufssoldat blieb, dass er im Zentrum für Sportmedizin in Warendorf therapiert wurde – „das war eine unfassbare Hilfe“, sagt Witczak. Er ist unendlich dankbar dafür.
Dort, wo sich Kameraden um Kameraden kümmern, sah er auch solche, die es noch schlimmer erwischt hatte als ihn. „Ich lebe, bin bei meiner Familie, kann meine Kinder groß werden sehen“ – das sagte er sich. Kleine Erfolgserlebnisse pflastern seinen Weg zurück in ein normales Leben.
Eine Münze vom Boden aufzuheben, ist ihm fast unmöglich
Mit einem behindertengerechten Auto konnte er die Kinder wieder fahren. „Ich musste auch wieder lernen, unter Leute zu gehen.“ Die Blicke der anderen zu ertragen war nicht leicht. „Schlimm ist immer, wenn die Leute so gaffen und im Supermarkt noch einmal um die Regale herum gehen, um noch einen Blick zu erhaschen. Die Kinder haben das auch gemerkt. Der Kleine wäre am liebsten auf alle losgegangen.“ Witczak selbst sind die Blicke mittlerweile egal. Sagt er.
Im Alltag kommt er zurecht. Meistens. „Manchmal bin ich frustriert, manchmal muss ich auch lachen.“ Eine Münze vom Boden aufzuheben, ist ihm fast unmöglich, eine Flasche aufzuschrauben schwer. Aber irgendwie geht vieles.
Zwei Tätowierungen auf den Unterarmen aus dem Gedicht „Invictus“
Auf die Unterarme hat er sich im vergangenen Jahr zwei Tätowierungen stechen lassen. Links: My head ist bloody but unbowed. Rechts: I am the master of my fate, I am the captain of my soul. Zitate aus einem Gedicht von William Ernest Henley. Titel: Invictus.
„Sport ist wie Medizin“, sagt Witczak. Er wird bei der Bundeswehr damals für die Abteilung Sporttherapie vorgeschlagen. „Was ich machen wollte, haben die mit mir ausprobiert“, sagt er. Als man ihm dort von den Invictus Games erzählt, hat er ein neues Ziel. Seit Beginn des Jahres trainiert er nun für die Meisterschaften im September (9. - 16.): Anfang August ist der nächste zweiwöchige Lehrgang in Warendorf.
Vorfreude auf Eröffnungsfeier
Fürs Kugelstoßen hat er sich selbst eine Orthese gebaut. Beim Tischtennisspielen hält die künstliche Hand den Schläger fest. Über 50 Meter Freistil und in der Staffel wird er zudem beim Schwimmen starten. Er weiß noch, wie er bei den ersten Versuchen fast abgesoffen wäre. Aber aufgeben ist keine Option. „Unsere Invictus-Mannschaft ist ein tolles Team. Wir inspirieren uns gegenseitig, feuern uns an, motivieren uns. Jemandem, der das nicht erlebt, kann man nicht erklären, wie wir das erleben“, sagt Witczak. „Das ist unbeschreiblich.“
Medaillenchancen rechnet er sich nicht aus, aber nichts könnte ihm gleichgültiger sein. Es geht um mehr: um Respekt, um seine Familie, um alle, die geholfen haben, dass er all das wieder erleben darf. „Auf den 9. September freue ich mich so sehr, dass ich aufpassen muss, nicht allen damit auf den Sack zu gehen“, lacht er. Dann ist die Eröffnungsfeier. Tausende werden in der Düsseldorfer Fußball-Arena sein und den Athleten zujubeln.
Es ist der Moment, auf den sich Armin Witczak vermutlich am meisten freut. Weniger für sich als für seine Familie, die dann zuschauen wird. „Ich möchte mit der Teilnahme etwas zurückgeben.“
<<< HINTERGRUND >>>
Mit den Invictus Games (9. bis 16. September) soll einerseits die Öffentlichkeit für das Schicksal der Athletinnen und Athleten sensibilisiert werden, andererseits soll den Sportlerinnen und Sportlern die Wertschätzung zuteilwerden, die sie sich durch ihren selbstlosen Einsatz für die Gesellschaft redlich verdient haben, heißt es auf der Homepage der Bundeswehr.
Erwartet werden 500 Wettkämpfende aus 21 Nationen. Sie werden sich in zehn verschiedenen Disziplinen messen: unter anderem im Rollstuhl-Rugby, im Sitzvolleyball und im Bogenschießen. Erstmals wird bei den Invictus Games auch Tischtennis gespielt. Die deutsche Mannschaft umfasst 37 Teilnehmende.
Der Eintritt zu den Wettbewerben, die mehrheitlich in der Düsseldorfer Fußball-Arena ausgetragen werden, ist für Zuschauer frei.