Wuppertal. Bei einem tragischen Motorradunfall verlor Gina Rühl einen Arm. Erst traute sie sich kaum in die Öffentlichkeit. Doch nun will sie Model werden.

Sie weiß noch, dass sie dachte, sie sei tot. Die Deckenlichter im Krankenhaus huschten an ihr vorbei. Sie vernahm dumpf die Stimmen um sie herum, sie wollte etwas sagen, konnte aber nicht. „Ich habe gedacht: Hast du das jetzt wirklich deiner Mutter angetan und bist gestorben?“, sagt Gina Rühl (22) über diesen Septembertag, als sie in die Unfallklinik in Köln eingeliefert wird.

Nach dem Unfall will Gina Rühl mehr denn je Model werden

Zwei Jahre ist das jetzt her. Sie lächelt zaghaft und reißt die Verpackung ihres Tees, die sie in der rechten Hand hält, mit den Zähnen auf. Der linke Ärmel ihres Oberteils ist leer. Die Hand, die sie nicht mehr hat, schmerzt als läge sie auf einer Herdplatte. Die Phantomschmerzen seien heftig, sagt sie.

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Aber das allein will sie so nicht stehen lassen. „Es geht mir gut. Alles andere wäre respektlos gegenüber dem Schicksal. Denn irgendwie habe ich ja doch einen Schutzengel gehabt.“ So sieht sie das. Dass alles im Leben einen Sinn hat. Sie will Model werden, jetzt mehr denn je. „Es klingt paradox, aber durch den Unfall habe ich mehr Selbstbewusstsein als vorher.“

Ein harmloser Ausflug mit dem Motorrad endet tragisch

Es hätte damals ein harmloser Motorrad-Ausflug mit ihrem Freund Jan werden sollen. Ein sonniger, warmer Tag, den man auch gut im Schwimmbad verbringen kann. Gina steigt als Beifahrerin auf die Maschine. Vielleicht, dachten sie, könnten sie irgendwo einen Kaffee trinken. Ein befreundetes Paar begleitet sie.

Sie lächelt wieder, weil sie natürlich darüber nachgedacht hat, was passiert wäre, wenn sie gar nicht oder später oder woanders gefahren wären. Wenn sie weiter für ihre Abiturprüfung zwei Tage später gelernt hätte. Eine junge Frau, die Wert auf ihr Äußeres legt und plötzlich nur noch einen Arm hat und einen zweiten aus Metall, mit dem sie leidlich etwas festhalten kann, den sie oft genug gar nicht erst anlegt, weil er ihr Schmerzen an den Narben bereitet und der Gurt den Nacken belastet.

In einer langgezogenen Linkskurve bei Radevormwald verliert ihr Freund aus bis heute ungeklärter Ursache die Kontrolle. Zu schnell sei er nicht gewesen, vielleicht habe da einfach etwas gelegen, das das Heck ausbrechen ließ, sagt Gina. Sie erinnert sich, wie sie über den Asphalt rutscht, wie das Motorrad Funken sprüht, wie sie einen Abhang hinunterschießt.

Zwei Tage künstliches Koma, unzählige Operationen

Als Gina wieder zu sich kommt, liegt sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden an einem Baum, an den sie geschleudert sein muss: Becken gebrochen, rechter Unterschenkel zertrümmert, der linke Arm noch da, aber innerlich abgerissen. Ein Helikopter wird angefordert. Bis heute kann sie das Geräusch eines Hubschraubers nicht gut ertragen.

Zehn Stunden Not-OP, zwei Tage künstliches Koma. Unzählige weitere Operationen in den folgenden Tagen, um zu versuchen, den Arm zu retten. Vergeblich. Die Finger, die Hand verfärben sich tiefdunkel. Sie hatte bis zuletzt gedacht, dass ihr das nicht drohen würde, aber der Arm muss entfernt werden, weit oben, nahe des Schultergelenks.

Der Arm sieht nach Roboter aus

Deswegen ist es auch mit der ­Prothese so schwer, sagt Gina. Ein Hightech-Gerät, 100.000 Euro ­teuer, ganz auf sie zugeschnitten. Bewusst entschied sie sich gegen einen Latexüberzug, der vorgaukelt, dass da eine echte Hand wäre. Sie wollte einen Armersatz, der nach Roboter aussieht. Sie steuert die Prothese mit den Brust- und Rückenmuskeln. Wenn da mehr übrig wäre, mit dem sie steuern könnte, wären filigranere Bewegungen möglich.

„Ich mache meinem Freund keinen Vorwurf, nicht eine Sekunde“, sagt sie. Sie sind noch immer zusammen, neun Jahre mittlerweile. Er erlitt damals ein Schädel-Hirn-Trauma. Als sie an dem Baum lag, hörte Gina ihn irgendwo atmen. „Er würde nie etwas machen, das mir schadet.“ Oft schon habe er ihr gesagt, dass er wünschte, er hätte seinen Arm verloren.

Nach dem Unfall will sie sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen

Mehr als zwei Monate schläft Gina nur auf dem Rücken. Die Klinik verlässt sie im Rollstuhl. Zurück zu Hause in Wuppertal traut sie sich kaum in die Öffentlichkeit, weil sie Angst hat vor den Blicken der Menschen, weil sie nicht will, dass andere ihr zuschauen, wie sie daran scheitert, eine Flasche zu öffnen, einen Schnürsenkel zu binden, eine Jacke anzuziehen.

Sechs, acht, zehn Wochen, sagt sie, sei das so gegangen. Dann sei es ihr klar geworden. „Irgendwann habe ich gedacht: Ja, schaut mich doch an! Ich bin immer noch der gleiche Mensch, auch ohne zweiten Arm. Wofür habe ich überlebt, wenn ich mich jetzt verstecke?“ Wie eine Löwin habe sie sich gefühlt, sagt sie.

Social Media wirkt wie eine Therapie

Also macht sie das Gegenteil von sich verstecken: Sie zeigt sich im Internet, dort, wo sie fast jeder Erdenbürger sehen kann. Die ersten Bilder, die sie hochlädt, kosten Überwindung. Was vom Arm übrig ist, kaschiert sie zunächst mit Kleidung, heute ist das anders. Sie gibt Einblicke in ihren Alltag, beantwortet Fragen, lernt Menschen kennen, die in der gleichen Lage sind. „Einarmige Prinzessin“ nennt sie sich auf der Social-Media-Plattform Instagram, wo ihr mehr als 50.000 Menschen folgen. Viele dort wissen, welche Schmerzen sie hatte und hat. Wie weit der Weg für sie war zurück ins Leben.

Wie Therapie sei das für sie. „Ich habe gemerkt: Ich bin nicht die einzige junge Frau, der ein Arm oder Bein fehlt.“ In diesem Jahr hat sie sich für die Wahl der Miss Germany beworben. Sie schaffte es unter die Top 40. Model werden, das ist ihr Traum. Oder Moderatorin. Sie will die größtmögliche Bühne, dann könnte sie noch mehr Menschen erreichen mit ihrer Geschichte von Mut und Unbeugsamkeit.

Schon als sie bei Instagram anfing, hätten ihr viele geschrieben, dass sie ein Vorbild sei. Sie klingt fast noch immer etwas überrascht. „Ich mache anderen Mut, indem ich einfach mein Leben lebe.“ Vielleicht, sagt sie, nein, ganz bestimmt, war es ja dafür gut.