Attendorn. Wie die Menschen in Attendorn ein Jahr nach Bekanntwerden des Falls um Normalität bemüht sind - und was die Ermittler sagen.

Die Straße, in der es passierte, sieht aus wie vor einem Jahr. Nur die Fernsehkameras fehlen, die alles in die Republik hinaus sendeten. „Ich bin selber Oma, ich würde so etwas nicht mitmachen“, sagt die ältere Dame, die gerade das Haus passiert, in dem sich alles abgespielt hat. „Ja, sie haben Schlimmes getan. Aber irgendwann ist es ja auch mal gut, irgendwann muss man auch vergessen können.“ Sie drückt den Schal enger an den Hals. „Oder?“ Gute Frage.

Die Polizei und das Jugendamt befreien das Mädchen im September 2022

Anfang November 2022 wurde der Fall publik: Ein damals acht Jahre altes Mädchen soll fast sein ganzes Leben lang von seiner Mutter eingesperrt worden sein – im Haus der Großeltern und mit deren Wissen und Hilfe. Es ging nicht in die Kita, nicht in die Schule, wohl auch nicht zum Arzt, traf keine Freunde. Die Polizei befreite es im September 2022. Und das alles im beschaulichen Attendorn (25.000 Einwohner) im Sauerland, wo fast jeder jeden kennt, wo wochenlang Bestürzung herrschte.

Und nun? Ein Jahr danach? Was ist aus dem Fall, der Familie und der Stadt geworden? Wie geht man miteinander um, wenn man sich kennt oder glaubte zu kennen?

„Ich gehe hier fast jeden Tag vorbei“, sagt eine andere Passantin, die unweit wohnt. „Ich gucke, ob die Rollos unten sind oder oben.“ An diesem Montag sind die meisten Rollos zu einem Drittel heruntergelassen, die rötlichen Jalousien auf der Innenseite sind blickdicht geschlossen. Fenster stehen auf Kipp. „Der Fall ist eigentlich kein Thema mehr in der Stadt. Aber man fragt sich, warum das alles so lange dauert.“ Sie meint die Ermittlungen.

Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt noch gegen Mutter, Oma, Opa - und eine frühere Beamtin

Die laufen bei der Staatsanwaltschaft in Siegen noch: gegen die Mutter und die Großeltern des Kindes wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Ein zähes Ringen, wie Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss erklärt. Denn: Alle Familienmitglieder, die etwas wissen könnten, verweigern die Aussage. Das Kind selbst darf zu seinem eigenen Schutz nicht vernommen werden, „daher müssen wir alle möglichen Sekundärquellen heranziehen“, sagt von Grotthuss.

Im Zentrum: Die Ärzte, die das Kind seit der Inobhutnahme behandelten. „Was sie uns mitteilen, was sie in den Akten niedergelegt haben, was das Kind ihnen gegenüber geäußert hat, werten wir aus, um zu wissen, was sich in all den Jahren abgespielt hat. Das ist aufwändig, das ist viel Stückwerk“, sagt von Grotthuss. Ausgang? Ungewiss. Möglich, dass mangels Beweisen niemals Anklage erhoben wird.

Anklage gegen ehemalige Jugendamts-Mitarbeiterin ungewiss

Bei der Geburt des Kindes im Dezember 2013 waren Mutter und Vater offenbar schon kein Paar mehr. Durch einen angeblichen Umzug nach Italien im Jahr 2015 täuschte sie ihn und die Behörden. Ihr Motiv? Unklar. Ermittlungen laufen noch gegen eine mittlerweile pensionierte Mitarbeiterin des Kreisjugendamtes Olpe wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Ob es zur Anklage kommt, ist derzeit ungewiss. Immer wieder hatte es über Jahre Hinweise gegeben zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung.

Was die Ärzte uns mitteilen, was sie in den Akten niedergelegt haben, was das Kind ihnen gegenüber geäußert hat, werten wir aus, um zu wissen, was sich in all den Jahren abgespielt hat. Das ist aufwändig, das ist viel Stückwerk.
Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss

Das Mädchen befindet sich wohl noch immer in einer Pflegefamilie. Das Jugendamt macht dazu keine Angaben mehr. Im vergangenen Dezember begann das Kind, stundenweise eine Schule zu besuchen. Die Mutter schrieb ihr Briefe zum Geburtstag und zu Weihnachten. Schon damals war seitens des Jugendamts die Rede von möglichen begleiteten Treffen, die es perspektivisch geben könne.

Kreisjugendamt schweigt weiterhin - zum Schutz des Kindes

Ob sich Mutter und Tochter schon wieder gesehen haben? Wenigstens in einem Videotelefonat? „Zurzeit kann ich keine weitergehenden Auskünfte erteilen“, sagt der Anwalt der Mutter, Peter Endemann aus Gummersbach. Im Sommer hatte er auf Anfrage mitgeteilt: „Wir loten die Möglichkeiten aus, Videotelefonate zu führen. Die Annäherung soll Stück für Stück erfolgen.“ Daher gäbe es derzeit – Stand August - auch noch keine Anstrengungen, das Sorgerecht einzufordern.

Behutsames Vorgehen – womöglich auch, um Gespräche im Hintergrund nicht zum Erliegen zu bringen. Das Kreisjugendamt schweigt schon länger zum Fall. Es werde „zum Schutz der Persönlichkeitsrechte keine Informationen über das betroffene Kind an die Öffentlichkeit geben“, heißt es auf eine aktuelle Anfrage hin. Der Anwalt des Vaters, Jens Sonderkamp, hat schon seit Monaten keinen Kontakt mehr zu seinem Mandanten, wie er mitteilt.

Attendorn ist ein Jahr danach um Normalität bemüht. „Von denen hört man nichts mehr“, sagt eine ältere Dame, die vor dem Rathaus eine Pause macht. „Den Opa sehe ich noch manchmal. Der ist oft in der Stadt. Ich grüße ihn, natürlich. Ich würde auch die Oma grüßen, man kennt sich ja.“

Bürgermeister: Dieser nicht zu fassende Fall löst immer noch Gänsehaut aus

So denken die meisten. Sie vergessen, verdrängen, verzeihen vielleicht. „Den Opa sieht man immer mal“, sagt ein älterer Herr, der wie angewurzelt dasteht. „Ich grüße ihn, wir reden auch, wenn wir irgendwo zusammenstehen, aber nicht über die Sache.“ Seine Frau kommt hinzu: „Was sie getan haben, ist verachtenswert, aber das lassen wir ihn nicht spüren. So sind wir nicht.“ Er nickt und ergänzt: „Wir wissen ja auch nicht, warum die das so gemacht haben. Damit müssen sie alleine klar kommen.“

Allein? Zusammen? Der erste Bürger der Stadt, Bürgermeister Christian Pospischil, meint, dass der Fall den Ort sehr wohl verändert habe. Auch wenn es ruhiger geworden sei, rufe dieser „noch immer nicht zu fassende Fall“ noch immer Gänsehaut hervor habe viele Bürgerinnen und Bürger „zum Nachdenken angeregt“. Natürlich interessiere die Menschen jetzt, wie es juristisch weitergehe. „Doch die andere Frage, die die Attendorner bewegt, ist, wie es mit dem Mädchen weitergeht. Findet sie den erhofften Weg in eine Normalität? Das hofft wohl jeder in unserer Stadt.“