Attendorn. Der Fall aus Attendorn ist bald ein Jahr her. Worauf sich die Ermittler stützen, wie es dem Kind geht und warum die Verjährungsfrist wichtig ist.
Ein Jahr ist bald vergangen, seit das Mädchen von Polizei und Jugendamt aus dem Haus der Familie in Attendorn geholt wurde. Ein Mädchen, das zum damaligen Zeitpunkt acht Jahre alt war – und fast sein ganzes Leben lang von der Mutter und den Großeltern in deren Haus eingesperrt gewesen sein soll. Es ging nicht in den Kindergarten, nicht in die Schule, besuchte keine Freunde, hatte keinen Kontakt zum getrennt lebenden Vater, der das Kind und die Mutter in Italien wähnte. Am 23. September 2022 endete die Isolation durch den Polizeieinsatz. Fast ein Jahr danach sind noch immer viele Fragen offen – und es ist fraglich, ob es überhaupt eine Anklage geben wird.
Wie ist der Stand der Ermittlungen?
Gegen die Mutter und die Großeltern wird wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen ermittelt. Es sei noch immer „viel in Bewegung“, sagt Patrick Baron von Grotthuss, Oberstaatsanwalt bei der mit dem Fall betrauten Staatsanwaltschaft in Siegen. Zugleich stagniert der Fall, weil es an einem entscheidenden Punkt nicht weitergeht: die Vernehmung des Mädchens ist den Ermittlern noch immer nicht möglich.
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Dazu müsste der gerichtlich bestellte Ergänzungspfleger des Kindes, ein Anwalt aus Finnentrop, seine Zustimmung erteilen. Zum Schutze des Mädchens tut er dies bislang nicht – und die Hoffnung bei der Staatsanwaltschaft schwindet wohl, dass sich daran noch etwas ändern wird. „Alle Familienangehörigen schweigen bislang, das macht es so schwierig, Beweismittel zusammenzutragen“, sagt von Grotthuss: „Wir müssen daher versuchen, den Sachverhalt anhand von Sekundärquellen zu klären.“
Worauf stützen sich die Ermittler?
Wichtigstes Hilfsmittel sind die medizinischen Befunde, die seit dem Auffinden des Mädchens erstellt wurden. Dem Kind sei es damals den Umständen entsprechend gut gegangen, es habe sogar rechnen und schreiben können, hieß es damals von der Staatsanwaltschaft. Allerdings habe das Mädchen körperliche Defizite aufgewiesen, die zum Beispiel beim Treppensteigen sichtbar wurden. „Es werden weiterhin ärztliche Stellungnahmen angefordert und ausgewertet“, sagt van Grotthuss.
Kommt es zur Anklage?
Das ist ungewiss. Klar dürfte sein, dass das große öffentliche Interesse an dem Fall und die daraus resultierende Empörung kaum vereinbar wären mit der Einstellung des Verfahrens. „Es wird noch einige Zeit vergehen, bis wir die Ermittlungen abschließen und über die Frage einer Anklageerhebung entscheiden können“, sagt von Grotthuss.
Wie geht es dem Kind?
Das Mädchen ist nach wie vor und auf unbestimmte Zeit bei einer Pflegefamilie untergebracht. Anfang Dezember feierte es seinen neunten Geburtstag. Zu diesem Anlass war der Mutter erstmals Briefkontakt erlaubt, der sich seither offenbar intensiviert hat. Schon damals waren begleitete Treffen perspektivisch denkbar. Ein tatsächliches Wiedersehen hat es offenbar noch nicht gegeben. Peter Endemann, Anwalt aus Gummersbach, der die Mutter vertritt, sagt: „Wir loten die Möglichkeiten aus, Videotelefonate zu führen. Die Annäherung soll Stück für Stück erfolgen.“ Daher gäbe es derzeit auch noch keine Anstrengungen, das Sorgerecht einzufordern.
Das Jugendamt des Kreises Olpe hat sich nach Rücksprache mit dem Familienministerium auferlegt, sich zum Schutze des Kindes nicht mehr zu dessen Entwicklung zu äußern. Kurz vor Weihnachten 2022 begann das Mädchen, zunächst stundenweise eine Schule zu besuchen. Rückschritte auf dem Weg in ein normales Leben sind nicht bekannt.
Wie verhält sich die Familie des Kindes?
Die Großeltern und die Mutter wohnen weiterhin unter einem Dach – in dem Haus, in dem auch das Mädchen über Jahre isoliert wurde. Mittlerweile, so heißt es aus der Nachbarschaft, sehe man die Familienmitglieder wieder auf der Straße, die in Wurfweite der Attendorner Innenstadt liegt. Die erste große Empörung, die der Fall damals in der Kleinstadt auslöste, ist abgeebbt.
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Der Vater des Kindes hat das gemeinsame Sorgerecht, seit das Mädchen ein Säugling war. Er kann es aber jetzt nicht ausüben, da das Kindeswohl vorangestellt wird. Der Mann wohnt in Attendorn nur wenige hundert Meter vom Haus der Kindesmutter entfernt, ist verheiratet und hat ein Kind.
Was sagt ein Strafrechts-Experte?
„Obwohl das öffentliche Interesse an dem Fall groß ist, müssen die Vorwürfe eindeutig nachgewiesen werden können“, sagt Rechtsanwalt Klaus-Peter Kniffka, Strafrechts-Experte aus Hagen. „Vor diesem Hintergrund bin ich skeptisch, dass es zur Anklage kommt, wenn – wie es derzeit aussieht – alle Beteiligten schweigen.“
Zwar sei es ganz offensichtlich zu einer Verletzung der Schulpflicht gekommen. „Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld belegt wird.“ Das schließt aber spätere Folgen nicht aus, sagt Kniffka: „In einem Fall von Misshandlung Schutzbefohlener beginnt die Verjährungsfrist erst, wenn ein Opfer das 30. Lebensjahr vollendet hat.“ Das bedeutet, dass das Mädchen, wenn es volljährig ist, noch lange genug alle Möglichkeiten hat, neue strafrechtliche Ermittlungen in Gang zu setzen– wenn es das doch noch wünscht.
Und wenn es keine Anklage gibt? Kehrt das Mädchen dann automatisch zur Mutter zurück? „Nein, nicht zwingend. Wie in jedem anderen Fall kann das Jugendamt den Eindruck gewinnen, dass die Mutter nicht ausreichend in der Lage ist, sich um das Kind zu kümmern. Dann verbliebe es in einer Pflegefamilie – und die Mutter müsste vor dem Familiengericht gegen diese Entscheidung vorgehen“, sagt Kniffka.